© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Videospielen macht dumm
Der Neurowissenschaftler Manfred Spitzer warnt vor vermüllten Landschaften in jugendlichen Köpfen
Christoph Keller

Wenn Sie also wollen, daß Ihr Kind in der Schule schlechtere Leistungen erbringt und sich künftig weniger um Sie und seine Freunde kümmert, dann schenken Sie ihm doch eine Spielkonsole!“ Trotz des sarkastischen Tons dieses Ratschlags ist an der Ernsthaftigkeit des Anliegens von Manfred Spitzer nicht zu zweifeln.

Denn bevor er diese „Empfehlung“ ausspricht, breitet der Leiter der Psychiatrischen Universitätsklinik und des Transferzentrums für Neurowissenschaften in Ulm bestürzende Befunde jüngerer Studien aus, die den verheerenden Einfluß von Bildschirmmedien auf die geistige und charakterliche Entwicklung von Jugendlichen dokumentieren (Pädagogische Führung, 3/11). Rundum bestätigt fühlt sich Spitzer, der 2004 mit dem leicht reißerischen Buchtitel „Vorsicht Bildschirm“ auf sich aufmerksam machte, vor allem durch eine US-Studie aus dem letzten Jahr. Deren Resultate widerlegen eine stereotype Verteidigung des Medienkonsums, derzufolge Eltern fürchten müßten, ihre Kinder würden ohne Videospiele schnell als Außenseiter stigmatisiert. Spitzers US-Kollegen bewiesen das exakte Gegenteil: Gerade der Konsum medialer Bilderfluten mindert die Qualität der sozialen Beziehungen. Ebenso sei wissenschaftlich erhärtet, welche „klar negativen Auswirkungen“ die kontinuierliche Nutzung einer Videospielkonsole auf die Schulleistungen habe: „Viel Videospielen schadet viel.“

Der langfristig schädlichste Effekt werde beim Erwerb der Schriftsprache gemessen, also „der Kulturtechnik schlechthin“. Von US-Psychologen 2009 publizierte Ergebnisse eines Lesetests, die Spitzer referiert, zeigen in einer Kontrollgruppe, der man die Spielkonsole vorenthielt, eine deutliche Zunahme der Leseleistungen, während Probanden mit Playstation auf Anfängerniveau stagnierten. Daß bei dieser Gruppe auch „signifikant mehr Schulprobleme“ auftraten, bedarf kaum mehr der Erwähnung.

Wer jedoch beim Lesen und Schreiben schon fremdelt, weil er seit zartestem Kindesalter der Faszination der Technik erlegen ist, den verfolgen die Defizite des Spracherwerbs auch auf allen anderen Lernfeldern. Dabei ist ein mittelprächtiges Abschlußzeugnis aus Spitzers Perspektive noch das kleinere Unglück gegenüber jenen nachhaltigen sozialen Schäden, die er unter der Kurzformel „Gewalt im Videospiel führt zu mehr Gewalt in der realen Welt“ abhandelt.

Eine inzwischen durch zahllose Untersuchungen bestätigte Kausalität, die neuerlich auch hirnphysiologisch untermauert wird. Zu den vom Allgemeinwissen adaptierten Ergebnissen der Hirnforschung gehöre nämlich die Erkenntnis von der Plastizität des Gehirns. Man müsse daher kein Neurologe sein, um zu verstehen, wie umstandslos permanenter Medienkonsum zu „gewaltdominierter visueller Konditionierung“ führe. Zumal besonders von Videospielen die größte Gefahr ausgehe, da sie aktiv geübt und erlebt werden. Diese emotionale Beteiligung klinge, wie Tests belegen, auch im Schlaf nicht ab. Vielmehr sollten hier die in der neurowissenschaftlichen Grundlagenforschung entdeckten Zusammenhänge von Schlafen und Lernen Beachtung finden. Im Schlaf komme es durch erneute Aktivierung des spielerisch „Erlernten“ zur Verfestigung der im Wachzustand rezipierten Inhalte. Wegen ihrer starken Gefühlswirkung würden also primär die Inhalte von Videospielen schlafend konsolidiert.

Ende Juni hat ein kalifornisches Gericht eine Klage gegen den Verkauf von Gewaltvideos an Minderjährige abgewiesen. Was zu erwarten war, da sonst einem Geschäftsfeld Einbußen gedroht hätten, auf dem man jährlich 16 Milliarden Dollar umsetzt. Daher dürfte auch Spitzers Vorschlag politisch chancenlos sein, endlich über Steuern auf die Produktion gewalthaltiger Spiele nachzudenken. Obwohl die „vermüllten Landschaften in den Köpfen der Jugendlichen“ ähnlich zu behandeln seien wie ökologische Schäden. Denn die indirekten Kosten erhöhter Gewaltbereitschaft durch Medien trügen „wir alle“ genauso wie jene der Umweltzerstörung.

Foto: Szenen aus diversen Videospielen: Permanenter Medienkonsum führt laut Spitzer zu „gewaltdominierter visueller Konditionierung“

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