© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

Massenmorde nach Instinkt
Stalinistischer Totalitarismus: 681.000 Todesurteile wurden vom sowjetischen Diktator in nur zwei Jahren unterzeichnet
Werner Becker

Gewalttätigkeit entwickelt sich aus Schwäche“, davon ist Jörg Baberowski, Dozent an der Humboldt-Universität zu Berlin, überzeugt. Stalins Überwachungsstaat war davon nicht ausgenommen. Der Diktator habe stets Angst gehabt, gestürzt oder betrogen zu werden. Sein Terror machte ihn sicherer, deshalb ermordete er praktisch alle vermeintlichen Gegner des Regimes. Stalin erließ „von 1936 bis 1938 gut 681.000 Todesurteile“, so Baberowski. Er ließ viele Millionen Bauern verhungern, um deren Aufstand wegen der desolaten Wirtschaftslage zu verhindern. 

Unter dem Thema „Stalinistischer Terror in der Sowjetunion und in Osteuropa“ hielten in den vergangenen Wochen verschiedene Experten in der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur Vorträge. Für Kenner des Stalinismus boten auch Baberowskis Enthüllungen nichts wesentlich Neues. Baberowski möchte aber einen neuen Aspekt in die Stalinismusanalyse mit einbeziehen. Seine Frage lautet: Wie wird ein Mensch so grausam? Stalin sei nicht paranoid gewesen, viele seien ihm gefolgt. Trotzdem konnte ein so mächtiger Mann seine Ängste nicht besiegen, ließ immer mehr Menschen, ja ganze Familien ausrotten, nur um vor potentiellen Rächern absolut sicher sein zu können. Der aktuelle Fall des Halbbruders von Hamid Karzai war der Anlaß für die Frage aus dem Auditorium, ob denn nicht wenigstens einer von Stalins Leibwächtern versucht habe, den Sowjetführer umzubringen. Die fehlende politische Vision und die gleichzeitige völlige Abhängigkeit im Windschatten des Diktators habe sie aber letztlich davon abgehalten, ist sich Baberowski sicher.

Auch James Harris, Dozent an der University of Leeds, betonte in seinem Vortrag, daß Stalin in gewisser Weise allein gewesen war, da die UdSSR weltweit ohne Verbündeten auskommen und dadurch wenigstens die Stellung im eigenen Land stärken mußte. Dies belegt Harris mit „Stalin’s Spymania“: „Stalin wußte über alles Bescheid, was über seinen Tisch ging.“ Der Diktator kannte seinen Geheimdienst gut und selbst dort vertraute er nicht seinen Spezialisten, sondern „nur seinem Instinkt“. Harris nennt Stalins Herrschaft ein „Paradox“, da sie eine sehr machtvolle und gleichzeitig sehr mißtrauische gewesen sei. Stalin sei am Anfang der dreißiger Jahre geschwächt gewesen, da das Volk wegen der hohen Arbeitslosigkeit und der grundsätzlich schlechten Wirtschaftslage der UdSSR sehr unzufrieden war und Stalin Angst vor einer Revolte hatte. So wurde schnell für viele klar, daß es zwischen Folgen oder Tod keine Alternative gab.

Baberowski vergleicht diese „extreme Einseitigkeit“ auch mit dem Dritten Reich. „Für Stalins Gefolgschaft gab es keine Möglichkeit, die Seiten zu wechseln, anders als bei Hitler“, spitzte Baberowski etwas kühn zu. Auch wenn die Art und Weise des Totalitarismus unter Hitler und Stalin tatsächlich von unterschiedlicher Qualifikation gewesen ist, dürfte Baberowski mit diesem versteckten Kollektivschuldanwurf an die Deutschen aber auch all jene verstören, die den Nationalsozialismus gern als absolut Böses setzen wollen und der Einzigartigkeitsthese anhängen. Die Vortragsreihe wird im Oktober 2011 fortgesetzt. www.stiftung-aufarbeitung.de

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