© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  30/11 22. Juli 2011

GegenAufklärung
Kolumne
Karlheinz Weissmann

Als ich den Mont Saint-Michel das letzte Mal besuchte, gab es keine Mönche im Kloster. Der Umstand war nicht neu, die Abtei seit dem 18. Jahrhundert verwaist; in der Französischen Revolution diente sie vorübergehend als Kerker für widerspenstige Kleriker und ging dauerhaft in staatlichen Besitz über. Dabei ist es bis heute geblieben, was unter anderem Begehrlichkeiten solcher Art weckt, daß die berühmten Gebäude für exklusive Managementseminare vermietet werden sollen. Eine Idee, die bei den Bewohnern – und das heißt vor allem den Gewerbetreibenden – des Mont wenig Begeisterung weckt, ohne daß deshalb auf religiöse Motive zu schließen ist. Man meint bloß, daß die einmalige Atmosphäre besser gewahrt bleibt, wenn die Brüder und Schwestern der Kommunität von Jerusalem dort leben und Gottesdienst halten. Wer den Mont-Saint-Michel zum Ziel einer Exkursion macht, sollte nicht versäumen, an einer Meßfeier oder den Stundengebeten der Gemeinschaft teilzunehmen. In der Kargheit des Kirchenschiffs, das seines sakralen Schmucks seit der Revolution beraubt ist, entfaltet die Liturgie viel von ihrer ursprünglichen Schönheit.

Unverhofft: Man biegt um die Straßenecke, in der sicheren und frustrierenden Erwartung, gleich auf das „Nagelstudio“ zu treffen, mit seiner vulgären Reklame und seinen obskuren Angeboten, statt dessen hat sich dort eine akademische Buchhandlung angesiedelt und hält in ihren Auslagen Neuerscheinungen und manchen Klassiker bereit.

Der französische Anthropologe Yves Coppens hat für ein gewisses Aufsehen gesorgt, nachdem er in einem Aufsatz zur Frühgeschichte des Menschen die Out-of-Africa-These in Frage stellte, die besagt, daß alle Menschen eines Ursprungs sind, das heißt von einer „afrikanischen Eva“ abstammen. Nach Meinung von Coppens hat sich die „sapiensisation“, also der Übergang vom Homo erectus zum Homo sapiens, an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten vollzogen. Insbesondere geht es ihm um Indizien, die für die Hypothese sprechen, daß der asiatische Jetztmensch direkt auf seine lokalen Vorläufer zurückgeführt werden muß; eine Annahme, die in China seit langem vertreten wird. Erwähnt sei, daß Coppens zu den bedeutendsten französischen Wissenschaftlern der Gegenwart zählt, er lehrte am Collège de France, leitete das Musée de l’ homme in Paris, wurde von Chirac mit der Bildung der „Kommission Coppens“  beauftragt, die eine Umweltcharta erarbeitete, und von nationalen wie internationalen Organisationen vielfach ausgezeichnet. In seiner Heimat gilt er außerdem als „Entdecker“ von „Lucy“, des berühmten Vormenschenskeletts, eine Ehre, die man Coppens im angelsächsischen Raum systematisch streitig macht und im übrigen dazu neigt, Veröffentlichungen, die nicht in englischer Sprache erscheinen (wie die vorliegende), zu ignorieren; nicht zu reden von dem Unwillen, mit dem man auf Coppens Versuch reagieren dürfte, die Monogenese in Frage zu stellen.

Unverhofft: Der Routenplaner im Netz zeigt als denkbare Zwischenstation „Bisanz“; man glaubte schon, der letzte Lebende zu sein, der sich dieses Namens der alten deutschen Reichsstadt mit Adler und Säulen des Herakles im Wappen erinnert, einst Hauptort der Freigrafschaft Burgund; sonst ist nur noch von Besançon die Rede.

Die Vorstellung vom vielfachen Ursprung des Menschen wurde zuerst im Zeitalter der Aufklärung diskutiert. Gründe waren die Infragestellung der biblischen Schöpfungsgeschichte, vor allem aber die dramatisch gewachsene Zahl von anthropologischen Daten. Hatte die kirchliche Lehre nicht nur behauptet, daß Gott das erste Menschenpaar kreierte, sondern auch, daß die spätere Teilung der Gattung auf schuldhaftes Verhalten (der Söhne Noahs) zurückzuführen sei, so wuchsen die Zweifel an dieser Interpretation einmal durch den prinzipiellen Vorbehalt des 18. Jahrhunderts gegen mythische Erklärungen, und dann wegen der Beobachtung, daß die Welt nicht nur deutlich größer war als in der Bibel behauptet und die Verschiedenartigkeit ihrer Bewohner sich kaum mit Theorien erklären ließ, die aus der Heiligen Schrift abgeleitet wurden. Selbstverständlich hatte eine Debatte von so fundamentaler Bedeutung eine ideologische Dimension. Dabei wurde im Streit über Monogenese oder Polygenese die erste Position von der kirchlichen Orthodoxie, aber auch von linken Universalisten verteidigt, während sich hinter der zweiten eine bunte Anhängerschaft aus radikalen Aufklärern und Anhängern jener Ideen sammelte, mit deren Hilfe immer schon die Auffassung vertreten worden war, daß unmöglich alle Menschen gleichen Ursprungs und damit gleichen Werts sein könnten.

Vielleicht nur ein kleiner Vorbehalt gegen die Art des Gottesdienstes auf dem Mont Saint Michel: Es fehlt das Chorgestühl, das vor den Augen der Laien die Inszenierungshilfen verbirgt.

Die nächste „Gegenaufklärung“ des Historikers Karlheinz Weißmann erscheint am 12. August in der JF-Ausgabe 33/11.

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