© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Kleinkariertes in Pumpernickel
Literatur: William Makepeace Thackeray war ein satirischer Beobachter des Jahrmarkts der Eitelkeit und Kritiker deutscher Kleinstaaterei
Heinz-Joachim Müllenbrock

Der am 18. Juli 1811 in Kalkutta geborene, mit satirischem Temperament begabte William Makepeace Thackeray begann seine literarische Laufbahn als Parodist. Seinen ersten durchschlagenden Erfolg errang er mit der in der Zeitschrift Punch unter dem Titel „The Snobs of England“ (1846/47) veröffentlichten Essay-Serie, die, leicht gekürzt, 1848 als „The Book of Snobs“ erschien. In diesen amüsanten, soziologisch weit gefächerten Charakterskizzen stempelt Thackeray, der das Wort recht eigentlich erst populär machte, den Snob, den verächtlich nach unten und bewundernd nach oben schauenden Egoisten, zum vorherrschenden Menschentyp in der englischen Gesellschaft.

Die spezifischen englischen Verhältnisse mit der Durchlässigkeit zwischen dem nicht hermetisch abgeschotteten Adel, nach Heinrich Heine Englands Sonne, Mond und Sterne, und dem folglich in die obersten Ränge drängenden Bürgertum begünstigten das von Thackeray sarkastisch unter die Lupe genommene Phänomen. Die Snob-Probe, ob jemand die noble Gesinnung eines echten Gentleman zeige oder ein schäbiges Gehabe an den Tag lege, offenbart ein peinliches Defizit englischer Gesellschaftsmoral.

Ein entsprechender Befund gilt auch für Thackerays frühes Meisterwerk „Vanity Fair“ (1848), doch tritt ein im „Book of Snobs“ teilweise spürbarer moralischer Rigorismus hinter der bunt schillernden Welthaltigkeit dieses bis heute beliebten Romans zurück. Zwar stellt sich Thackeray dem Leser schon gleich im Vorwort als Marionettenspieler vor und genießt als allwissender, an Fielding erinnernder Erzähler seine Machtvollkommenheit über seine freimütig bewerteten Figuren, aber seine Inthronisierung als weltkluger, abgeklärter Kommentator bedeutet keine engherzige Einschnürung der unvollkommenen Wirklichkeit. Denn Thackeray beeindruckt nicht zuletzt als Moralist im Sinne Montaignes, der die Welt in ihrer farbigen, durchaus unmoralischen Tatsächlichkeit anschaulich beschreibt.

„Vanity Fair“ entwirft ein weites gesellschaftliches Panorama, dessen Realismus in der Konzentration auf das Alltägliche und Banale besteht. Durch den programmatischen Untertitel „Ein Roman ohne Helden“ stellt sich Thackeray in Gegensatz zu der gesamten bisherigen Erzähltradition. Seiner illusionslosen Menschenauffassung entsprechend läßt der Autor eine stattliche Reihe gleichartiger, wenn auch unterhaltsam variierter Begebenheiten Revue passieren, die sich zum Gesamtbild einer trotz moralischer Transparenz weitherzig beobachteten, durch die Titelmetapher schon angekündigten Menschheitskomödie zusammenfügen.

Aus dem Kaleidoskop ironisch-satirisch vorgeführter Figuren ragen die Lebenslinien Becky Sharps und Amelia Sedleys heraus, die den ohne eigentliche Haupthandlung auskommenden, auf kumulative Wirkung bedachten Roman vor zerfließenden Konturen bewahren. Becky ist der absolute Star dieses Buches, Thackerays größte Charakterschöpfung und für heutige Lesererwartungen wie geschaffen.

Becky, die verwaiste Tochter eines heruntergekommenen Malers und einer französischen Tänzerin, ist mit einem reichen Verführungspotential ausgestattet und wickelt einen Mann nach dem andern um den kleinen Finger, von dem feigen Lebemann Joseph Sedley bis zu dem lüsternen alten Lord Steyne. Skrupellos schläft sie sich nach oben, aber in die Schlafzimmer guckt Thackeray, der weiß, was er viktorianischer Prüderie schuldig ist, nicht! Obwohl Thackeray Becky moralisch verurteilt, wird kaum ein Leser, zumindest kein männlicher, ihr eine gewisse Bewunderung versagen können.

Während mit der sirenenhaften Becky ein völlig neuer Frauentyp sein literarisches Debüt gibt, handelt es sich bei ihrer als Kontrastfigur angelegten Schulfreundin Amelia um einen ganz viktorianische Normen erfüllenden Frauentyp, der durch eine passive Lebenshaltung und ein Übermaß an Gefühlsseligkeit gekennzeichnet ist. Ihrem untreuen ersten Ehemann George Osborne bewahrt sie ein geradezu religiöses Gedenken. Daß sie und ihr zweiter Ehemann, der brave und selbstlose Major William
Dobbin, das Gute und Edle in Reinkultur verkörpern, steht im Gegensatz zu der vorherrschenden ironisch-satirischen Erzählhaltung. Mit seinem Hang zur Sentimentalität gerade bei weiblichen Figuren bleibt Thackeray trotz aller weltmännischen Abgeklärtheit Viktorianer.

Für deutsche Leser hält „Vanity Fair“ noch einen besonderen Leckerbissen parat: die vergnügliche Schilderung Pumpernickels, Thackerays burlesker Bezeichnung für Weimar, das er 1830 kennengelernt hatte. Im 62. Kapitel führt der Autor seine Leser vom Rhein in diesen Kleinstaat, wo sich Beckys und Amelias Wege noch einmal kreuzen. Schon aus seinen rudimentären Informationen geht Thackerays Gestaltungsabsicht hervor. Das Herzogtum Pumpernickel hat einen Durchmesser von nur knapp zehn Meilen; als Außenministerium dient eine Wohnung über Zwiebacks Konditorei, und die Armee besteht aus einer Musikkapelle! Dennoch sind überall Zeichen kleinstaatlicher Großmannssucht sichtbar, etwa in der Anlage eines Versailles nachahmenden Parks, dessen imponierende Wasserspiele die Funktion haben, der Bevölkerung Ehrerbietung einzuflößen.

Mit Pumpernickel hat Thackeray die klassische Darstellung eines deutschen Duodezfürstentums gegeben, in der sich der Autor aus dem Überlegenheitsgestus des Angehörigen einer Weltmacht über politische Rückständigkeit und kleinkarierte Lebensgewohnheiten mokiert. Der wenige Jahrzehnte später entstehende, für insularen Geschmack eher ungemütliche deutsche Nationalstaat zwang englische Autoren, von ihrem liebgewonnenen, dem Selbstwertgefühl so bekömmlichen Deutschlandbild allmählich Abschied zu nehmen. Trotz der für satirische Akzente prädestinierten Diskrepanz zwischen Sein und Schein ist Thackerays Sicht auf Pumpernickel zwar überlegen-distanziert, doch wohlwollend zugleich, denn der Kleinstaat kann nicht nur mit kultureller Attraktivität, sondern auch mit mancher menschlichen Großzügigkeit aufwarten, die mehr als ein Fragezeichen hinter die Verhaltenskonventionen der englischen Besucher setzt.

Seine wenig schmeichelhafte Analyse menschlicher Unzulänglichkeiten scheint Thackeray in „The History of Henry Esmond“ (1852) hinter sich zu lassen. Dieser zu Recht hochgeschätzte historische Roman, dank der Geschlossenheit seines Aufbaus Thackerays strukturell bestes Werk, beschwört die glanzvolle Epoche Königin Annes (1702–1714) herauf. Nur wer einen historischen Zeitraum so zu seinem inneren Besitz gemacht hatte, war imstande, die Handlung um die ihre Erinnerungen aufschreibende fiktive Hauptperson so nahtlos mit der authentischen Historie zu verschmelzen. Seine Vergegenwärtigung des Periodenkolorits ist eine Glanzleistung. Seine sprachliche Virtuosität geht so weit, daß er es wagt, einen Spectator-Essay ganz im Stil dieser berühmtesten der moralischen Wochenschriften nachzuahmen.

Doch der aus „Vanity Fair“ bekannte illusionslose Beobachter menschlichen Lebens und Treibens hat sich mit der Adaptation an zeitspezifische Anschauungsweisen keineswegs verabschiedet. Der in „Henry Esmond“ gepflegte Historismus entpuppt sich letzten Endes nur als äußeres Gewand, unter dem die ewig gleiche Menschheitskomödie abläuft; die Akteure haben das Kostüm, aber nicht das Spiel gewechselt. Denn der Werdegang der tief in die Zeitläufte verstrickten, zwischen Whigs und Tories schwankenden Titelfigur besteht in einem fortschreitenden Desillusionierungsprozeß. Thackeray, der bereits im Vorwort einer programmatischen Entheroisierung das Wort redet, hat seinen Roman nicht zuletzt im interdisziplinären Wettstreit mit Macaulay in der Absicht verfaßt, dessen die Nationalgeschichte verherrlichende, ab 1848 erscheinende „History of England“ pointiert zu konterkarieren.

Infolgedessen wird der Herzog von Marlborough nicht in seiner glorreichen Rolle als Feldherr, sondern vornehmlich in kleinlichen privaten Situationen gezeigt und so, gewissermaßen aus der Perspektive des Kammerdieners, in seinem Nimbus entzaubert. Und der Thronprätendent aus dem Hause Stuart nutzt die Stunde historischer Entscheidung beim Tode der Königin auf seine Art: mit einer galanten Tändelei mit der reizvollen, auch von Esmond umworbenen Beatrix. Mit seiner respektlosen Privatisierung der Geschichte, die erst in der historischen Romanliteratur des 20. Jahrhunderts zu einem Markenzeichen wurde, demonstriert Thackeray, daß sich kein Schlupfloch aus der realistischen Bilanzierung menschlichen Verhaltens auftut.

Die im Ton „Henry Esmond“ verwandten Romane „The History of Pendennis“ (1848–1850) und „The Newcomes“ (1853–1855) bestätigen Thackerays ohne Bitterkeit gezeichnetes skeptisches Menschenbild. Aufgrund ihres ironisch-respektlosen Blicks auf die Gesellschaft kommen seine Werke unserem heutigen Welterleben sehr entgegen; Thackeray ist in mehr als einer Hinsicht unser Zeitgenosse.

 

Prof. Dr. Heinz-Joachim Müllenbrock ist emeritierter Ordinarius für Anglistik an der Georg-August-Universität Göttingen. In der JUNGEN FREIHEIT schrieb er zuletzt über Rudyard Kipling (JF 3/11).

Foto: William Makepeace Thackery, Zeichung in der Illustrierten „Die Gartenlaube“, Leipzig 1864: Abgeklärt

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