© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Lasset die wilden Tiere zu mir kommen
Berliner Volksbühne: Zum sechzigsten Geburtstag des Theaterregisseurs und Intendanten Frank Castorf
Harald Harzheim

Geboren am 17. Juli 1951, als Sohn eines Eisenwarenhändlers am Prenzlauer Berg. 1969, Berufsausbildung bei der Eisenbahn. 1994, Lesung des trashigen Agitprop-Dramas „Golden fließt der Stahl“ mit Gregor Gysi, eine ironische Verabschiedung der untergegangenen DDR. 1995 wünscht er im Interview intellektuelle „Stahlgewitter“ für die neue Bundesrepublik. In seinem Intendantenbüro der Berliner Volksbühne prangt ein großes Stalin-Porträt an der Wand. Stalin, das heißt übersetzt: der Stählerne. Man merkt, Eisen und Stahl sind Leitmotive im Leben und Werk von Frank Castorf.

Das ist auch kaum anders möglich, wenn man sich gänzlich dem Widerstand verschreibt. In der DDR galten die Inszenierungen des Jungdramaturgen als derart ätzend, daß man ihn in die hinterste Provinz nach Anklam (Vorpommern) strafversetzte. Dessen Mini-Theater wurde bald zur Pilgerstätte der freigeistigen Intelligenzija, die dort regelmäßig Castorf-Premieren besuchte.

Nach dem Untergang der DDR kürte man den Geächteten zum Intendanten der Berliner Volksbühne. So wie er einst dem „real existierenden Sozialismus“ widerstand, errichtete er nun ein Bollwerk gegen „real existierenden Neoliberalismus“. Im Ostteil Berlins, dessen fortschreitende Gentrifizierung die ursprünglichen Bewohner vertreibt, inszeniert Castorf sein schrill-politisches Theater, das Zeitdiskurse auseinandernimmt, aber auch vergangene Ideologien (Sozialismus, Religion, Fortschrittsglauben) auf potentielle Gegenwartsbedeutung abklopft. Das hat ihm, Schicksal aller Freigeister, unterschiedlichste Kosenamen, vom „Faschisten“ bis hin zum „Ostalgiker“ eingebracht.

Auf dem Höhepunkt seines Erfolgs holte Castorf den jungen Filmemacher Christoph Schlingensief und den Choreographen Johann Kresnik als Verstärkung ans Haus. Schlingensief startet dort mit fragwürdigen Inszenierungen wie „Kühnen ’94. Bring mir den Kopf des Adolf Hitler“ (1994) oder „Die Berliner Republik“ (1998) seine Karriere als weltweiter Bühnenperformer. Johann Kresnik inszenierte politische Porträts als Tanztheater, über Pasolini, Goya, Frieda Kahlo und Ernst Jünger. Castorf, der über Jüngers Kriegstexte sagte, sie hätten „eine ungeheure antikapitalistische Sogkraft. Die hat Lenin nicht mehr“, geriet bei der (Anti-)„Ernst Jünger“-Choreographie (1995) an die eigene Grenze: Daß Regisseur Kresnik zur Premiere die Reichskriegsflagge auf dem Dach der Volksbühne hissen wollte, ging dem Intendanten deutlich zu weit: Er stoppte die Aktion.

Castorfs Inszenierungsstil wird oft als „Dekonstruktivismus“ bezeichnet: Die Vorlage, Stücke, Filme oder Romane, erfahren keine pure Übersetzung ins Szenische, sondern werden zusätzlich mit Assoziationen zu Themen und Charakteren aufgeladen. So sind diese Theaterabende eher Kommentare zu den Vorlagen als deren „Inszenierung“. Das fordert den Darstellern ein hohes Maß an Selbständigkeit ab. Tatsächlich erzählte die Schauspielerin Birgit Minichmayr, daß man sich an der Volksbühne gegenseitig mit Büchern und Lektüren traktiere, dem assoziativen Rohstoff der Inszenierungen.

Die Textvorlagen für Castorfs Regiearbeiten stammen oft von den radikalsten Anarchen des 19. und 20. Jahrhunderts, von Dostojewski, Louis-F. Celiné, Edward Limonow oder Heiner Müller. „Seht, ich bin der Dreck dieser Erde!“ scheinen deren Texte zu schreien. Und ebenso „dreckig“ ging es in Castorfs Inszenierungen zu: Zur DDR-Zeit, als Lebensmittel knapp waren, provozierte der Regisseur mit Essens-Schlachten auf der Bühne. Seit zehn Jahren werden die Aktionen der Darsteller durch Live-Projektionen gedoppelt oder gar verdrängt. Jede größere Leidenschaft fällt dem Spott zum Opfer. Castorfs Zynismus läßt keine Authentizität, Emotion oder Tragik mehr gelten, produziert deshalb leider nur noch theatralischen Leerlauf. Pure Destruktion ist eben nur kurzfristig interessant.

Dabei bewies ironischerweise die Volksbühne höchstselbst die ungebrochene Bedeutung des „Authentischen“. Durch zwei Gastspiele: dem brasilianischen „Teatro Oficina“, das mit „Os Sertões“ (Krieg im Sertão, 2005) sein Publikum in einen dionysischen Rausch versetzte, oder durch die Einladung des finsteren Metalmusikers Dylan Carlson. Der hatte Kurt Cobain jene Schrotflinte besorgt, mit der sich der lebensmüde Musiker ins „Nirwana“ blies. Das war, als hätte die Volksbühne den Tod, den Knochenmann persönlich hereingebeten. Und Castorfs Ärger darüber, Carlsons Auftritt am eigenen Haus verpaßt zu haben, beweist die ungebrochene Faszination von Authentizität – auch für ihn selbst! Da reicht der pure Videomitschnitt doch nicht mehr.

Mag die Luft des Neuartigen nach zwanzig Jahren Volksbühnen-Indendanz raus sein, ein Platz in der Theatergeschichte ist Castorf wohl sicher. In der Adaption von „Trainspotting“ (1996), einem Drogentrip in die „innere Wildnis“, finden die Darsteller ein totes Eichhörnchen auf der Hinterbühne. Wütend fragt einer, welcher Idiot die Tür verschlossen habe: Es sei doch „Franks ausdrücklicher Wunsch“, daß wilde Tiere freien Zu- und Ausgang zur Hinterbühne hätten. – Vielleicht fühlt sich ja demnächst ein „wildes Tier“ eingeladen und mischt den müden Laden nochmal richtig auf?

Foto: Frank Castorf (Oktober 2009): Der Provokateur und Stückezertrümmerer steht seit bald zwanzig Jahren an der Spitze der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz in Berlin-Mitte / Im letzten Jahr betrug die Auslastung des schrill-politischen Castorf-Theaters nur noch 62,6 Prozent

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