© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  29/11 15. Juli 2011

Wir reformieren uns zu Tode
Schulunterricht: Die Grundschrift statt der Schreibschrift ist ein weiterer Schritt nach unten
Thomas Paulwitz

Reformen, Reformen, Reformen: Kaum ein Schulfach hat in den vergangenen Jahrzehnten so unter Umgestaltungen gelitten wie der Deutschunterricht. Das wirkt sich um so verheerender aus, da Lesen und Schreiben die grundlegenden Kulturtechniken sind. Das Durcheinander der Rechtschreibreform mit ihren erzwungenen Nachbesserungen blieb dabei nicht der einzige Mißgriff. Jüngstes Beispiel ist der Versuch, die Schreibschrift abzuschaffen und statt dessen nur noch Druckschrift zu lehren.

Wie ein roter Faden zieht sich durch die Reformen das Versprechen, den Schülern alles leichter machen zu wollen. Das Ausfüllen von Lückentexten ersetzt das Schreiben ganzer Sätze. Schulkinder müssen kaum noch Gedichte auswendig lernen. Der Grundwortschatz, den ein Kind am Ende der 4. Klasse beherrschen sollte, beträgt nur noch 700 Wörter. Nach der Rechtschreibreform ist es zudem in den Grundschulen Mode geworden, die Schüler nicht auf Rechtschreibfehler hinzuweisen, um sie nicht zu entmutigen – eine Irrlehre mit schwerwiegenden Folgen für den sicheren Umgang der Kinder mit der Muttersprache. Den literarischen Kahlschlag an deutschen Schulen bezeichnete der russische Germanist Lew Kopelew als „Kulturrevolution wie in China – nur ohne Mao“.

Wie fragwürdig das beständige Senken der Meßlatte ist, zeigt sich in den verheerenden Folgen. Die Fähigkeiten lassen von Jahr zu Jahr nach. Dafür gibt es eindeutige Hinweise. Das Unternehmen BASF beispielsweise ermittelt in einer Langzeituntersuchung seit 1975 immer mit demselben Testbogen die Rechtschreibkenntnisse bei Lehrstellenbewerbern. Lag 1975 der durchschnittliche Anteil richtiger Lösungen bei den Hauptschülern noch bei 51 Prozent, so sank er bis 2008 auf nur noch 37,6 Prozent. Im selben Zeitraum ging er bei den Realschülern von 75,2 auf 58,2 Prozent zurück.

Nicht nur die BASF stellt schwindende Rechtschreibkenntnisse fest. Wissenschaftler der Universität Siegen fanden im Jahr 2004 heraus, daß sich zwischen 1972 und 2002 die Fehlerquote in freien Texten von Viertkläßlern von durchschnittlich 6,9 auf 12,9 Fehler je 100 Wörter so gut wie verdoppelte.

Das steht in einem argen Mißverhältnis zu den Erwartungen, welche die Bürger an die Schulen richten: Laut Institut für Demoskopie in Allensbach ist die „gute Beherrschung von Rechtschreibung und Grammatik“ die am häufigsten genannte Forderung. 86 Prozent der im Jahr 2011 befragten Deutschen kreuzten diese Antwort an. Nur 37 Prozent der befragten Eltern sind der Ansicht, daß sich die Schule besonders um sprachliche Gewandtheit bei den Schülern bemüht.

Nun droht unseren Schülern wieder einmal eine unnütze Reform. Diesmal wollen die Reformer die Schreibschrift abschaffen. Von diesem Gedanken sind wir Deutsche ebenso wenig begeistert wie von der Rechtschreibreform. In Umfragen sprechen sich 80 bis 90 Prozent der Befragten dagegen aus. Dennoch hat es der Grundschulverband nach zäher Lobbyarbeit geschafft: Im schulpolitisch ohnehin angeschlagenen Hamburg wird es den Schulen ab dem kommenden Schuljahr freigestellt, ob sie die Schreibschrift unterrichten oder nur noch eine Druckschrift, die sogenannte „Grundschrift“. Dabei gibt es keine einzige ernsthafte Untersuchung, welche diesen Schritt rechtfertigen könnte.

Die verantwortlichen Schulpolitiker sind offenbar ohne mit der Wimper zu zucken dazu bereit, ein Kulturgut zu opfern. Dies erinnert an einen – von den Siegermächten im nachhinein gebilligten – nationalsozialistischen Erlaß von 1941. Der Reichserziehungsminister verfügte damals, die deutsche Schreibschrift durch die lateinische, die sogenannte „Normalschrift“ zu ersetzen – ein tiefer Kulturbruch.

Darüber hinaus sollen Kinder in ihrer geistigen Entwicklung gezielt behindert werden. Die Schreiblehrerin Ute Andresen weist auf eine wichtige Aufgabe hin: „Schreibschrift lernen ist mehr als das Verketten von Buchstaben zu Informationen; es enthält motorische und ästhetische Lernvorgänge und fokussiert das Denken.“ Untersuchungen zeigen, daß Schüler, die sich keine flüssige Handschrift angeeignet haben, häufig zu einseitig und oberflächlich denken.

Josef Kraus, der Präsident des Lehrerverbandes, sagt voraus: „Die Lesbarkeit wird sich nicht verbessern, sondern deutlich verschlechtern, weil jeder Schüler die Buchstaben so verbindet, wie es ihm Spaß macht. Auch das Schreibtempo wird sich deutlich verlangsamen. Dazu strengt Druckschrift die Kinder viel mehr an, weil sie für jeden Buchstaben den Stift kurz anheben müssen. Pädagogisch ist das eine Bankrotterklärung, ein Irrweg. Ich hoffe sehr, daß sich die anderen Länder dem Hamburger Modell nicht anschließen werden.“

Daß der Wahnsinn auf Hamburg beschränkt bleibt, dürfen wir indes bezweifeln. Auch andere Bundesländer experimentieren bereits mit der Grundschrift. Deren Verfechter geben sich siegesgewiß: „Wir sind sicher, daß die Grundschulreferentinnen und -referenten der anderen Bundesländer uns auch unterstützen werden.“ Bei der Durchsetzung soll ein Taschenspielertrick helfen. Die „Grundschrift“ wird dabei nicht als Druckschrift, sondern einfach als neue Schreibschrift verkauft, schließlich „werden ja die Buchstaben beim Schreiben in der Luft miteinander verbunden“, wie es allen Ernstes in einem Papier heißt.

So wird es nur eine Frage der Zeit sein, bis andere Kultusministerien einknicken. In dieser Lage wirkt der Vorschlag Robert Wöllers besonders befreiend. Wöller ist einer der wenigen Kultusminister, die der CDU angehören. Der sächsische Minister forderte, zehn Jahre lang alle Schulreformen auszusetzen. Er wünscht sich an jedes Klassenzimmer das Schild: „Bitte nicht stören. Laßt die Lehrer einfach ihre Arbeit machen.“ Mit anderen Worten: Nur keine Reform wäre eine echte Reform.

 

Thomas Paulwitz ist Schriftleiter der in Erlangen vierteljährlich erscheinenden Zeitung Deutsche Sprachwelt. www.deutschesprachwelt.de

Foto: Grundschülerin: Pädagogisch ist die Druckschrift eine Bankrotterklärung, ein Irrweg, sagt Josef Kraus, Präsident des Lehrerverbandes

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