© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  28/11 08. Juli 2011

Der Flaneur
Trauriger Mund
Josef Gottfried

Sie war mir gar nicht aufgefals sie sich plötzlich in Bewegung setzte. Sie ging zwei Meter und zupfte einen der vielen Pfarrer, die ebenfalls in der Menge standen, am Ärmel seines Gewandes. Er drehte sich um und schaute überrascht, weil er nicht wußte, was sie wollte. Sie steckte ihm eine Karte zu, so groß wie eine Postkarte.

Auf dem Stück Papier war das Porträt eines Mannes in ihrem Alter abgebildet, um die 60. Neben dem Bild ein paar Worte, die ich aus drei Metern Entfernung nicht mehr entziffern konnte. Es sah aus wie eine Trauerkarte. Er verstand ihr Anliegen, versicherte ihr etwas, indem er nickte, sie gaben einander flüchtig die Hand, sie kehrte – etwas beruhigt – zurück an ihren Platz in der Menge auf dem Marienplatz. Wir warteten gemeinsam die Heilige Messe ab, gleich werden wir uns in die Fronleichnams-prozession einreihen.

Fasziniert von ihrem Glauben an die Fürsprache schaute ich sie, halbwegs unverhohlen, von der Seite genauer an. Unauffällig, glatte grau gewordene Haare bis zur Schulter, schwarze Jacke und ein Schal, den sie wahrscheinlich in irgendeinem Kolping-Kurs für Senioren oder sonstwo selbst gestaltet hat.

Um ihre Lippen herum waren diese Fältchen, die eine Frau bekommt, wenn sie von jungen Jahren an Probleme kompensiert, anstatt sie von sich abprallen oder abgleiten zu lassen. Vor meinem geistigen Auge bilde ich mir ein, sie als junge, anziehende Frau zu sehen, wie sie angesichts einer Schwierigkeit besorgt dreinschaut, ihre Lippen spitzt und damit – ohne sich dafür zu interessieren – die Grundlage für den Mund einer alten Frau legt.

Beim Friedensgruß dränge ich ihr meine Hand auf, schüttele ihre etwas länger und schaue mir ihre Augen an. Seltsamerweise fühle ich mich wie verliebt.

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