© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Die Textur einer deutschen Hansestadt
Peter Oliver Loews präsentiert in seinem literarischen Streifzug Danzig als „Grass-Land“
Alexander Decker

Eines Morgens ist es auffällig laut in unserer Gasse. (...) Meine Mutter kommt herein und ruft: ‘Wir sind deutsch!’ Die Erregung geht auf mich über ..., wir betreten die Straße und alle Menschen umarmen sich gegenseitig ..., die älteren Leute weinen alle. Danzig ist deutsch.“ So erinnert sich der Schauspieler Balduin Baas (1922–2006) an den 1. September 1939 in seiner Vaterstadt. Daß der Historiker Peter Oliver Loew für seinen „Literarischen Reiseführer Danzig“ mit solchen Trouvaillen aus Baas’ abseitiger Autobiographie (1964) aufwarten kann, beglaubigt seine Autorität als Danzig-Fachmann aufs schönste. Seiner Führerschaft mag man sich auf „acht Stadtspaziergängen“ daher gern anvertrauen.

Wenn auch sein verkniffener Kommentar zum Baas-Zitat – der überwiegende Teil der deutschen Bevölkerung Danzigs habe sich „nie mit der Abtrennung vom Deutschen Reich abfinden können“ – daran erinnert, wie wenig sich dieser Autor von seinem geschichtspolitisch-polonophilen Ressentiment  abhandeln lassen möchte. Auf dieses Angebot „kritisch“ gefilterten Detailwissens muß sich der Benutzer des vom Verlag vorzüglich ausgestatteten, allwettertauglichen Reiseführers einstellen, will er ihn „operativ“ bei seinem Danzig-Besuch nutzen. Ganz ungetrübte Enttäuschung dürfte dabei jedoch allein in einer Hinsicht aufkommen: Loew stößt zwar weit über das Altstadtterrain vor, wandert bis Weichselmünde und Oliva, bläst aber ausgerechnet vor Zoppot zur Umkehr. Das mondänste Seebad Deutschlands, bis 1914 mühelos neben Biarritz und Monte Carlo in der Weltvergnügungsliga mitspielend, außen vor zu lassen, wirkt wie ein Vorbeieilen an Artushof oder Marienkirche.

Tatsächlich bleibt aber der Aussetzer Zoppot die einzige Fehlstelle der Loewschen Promenaden. Mit keinem deutschsprachigen Reiseführer kann man derzeit die nach schwersten Kriegsverwüstungen rekonstruierte Danziger Altstadt in ihrer historischer Tiefenstruktur besser erfassen. Probleme bereitet allerdings Loews Anspruch, uns am literarischen Leitfaden durch die Gassen zu führen, da der sonst so kundige Cicerone dabei aus einem eher geizig befüllten Textreservoir schöpft. Natürlich verlangt niemand von ihm eine „Literaturgeschichte Danzigs“. Die hat Loew mit seinen beiden Bänden über „Danzig und seine Vergangenheit“ (2003) und „Das literarische Danzig“ (2009) schon kräftig gefördert und dabei für einen Angehörigen des Jahrgangs 1967 eine staunenswerte Kennerschaft bewiesen.

Diesen Arbeiten ist aber auch zu entnehmen, daß Danzig als Literaturprovinz weit mehr zu bieten hat als den Kanon, an dem sich Loews Spaziergänge orientieren. Gerade hier nämlich scheint die Transformation des Materials aus dem akademischen Elfenbeinturm ins populäre Medium des Reiseführers noch nicht ganz gelungen. Denn: Warum sucht man den Namen der deutschnationalen Publizistin Käthe Schirmacher vergeblich, die mit ihrem von Arthur Bendrat liebevoll illustrierten Kinderbuch „Danziger Bilder“ (1908) eine im wörtlichsten Sinne „Vorläuferin“ Loews ist. Nimmt sie ihre Leser doch ähnlich an die Hand, um sie plaudernd mit den Sehenswürdigkeiten der Stadt vertraut zu machen wie Loew.

Ebenso unverständlich ist, warum der Autor seine imaginäre Topographie nicht mit „Flammen über Danzig“ (1932), dem hochpolitischen Roman der jungverstorbenen Lya Esch, oder dem „Inflationsroman aus einer alten Stadt“, Felix Scherrets „Der Dollar steigt“ (1930) bereichert. Aus linker Sicht schildert Scherret, wie die „engen Gassen der Stadt, die ein Stück Mittelalter“ bewahrten, seit 1920 von „Banken und Wechselstuben“ okkupiert und zum „Schauplatz wilden Jobbertums, zur Hochburg der Spekulation, des Hazards am Roulette und an der Börse“ wurden. Daß ein im gewerkschaftlichen „Bücherkreis“-Verlag erschienener Lobgesang auf das „Danziger Proletariat“, das 1923 per Generalstreik den „Wahnsinn der Inflation“ abdrosselte, zugleich ein wenig sympathisches Bild von jüdischen „Devisenschiebern“ zeichnet, mag erklären, warum Loew den jüdischen Journalisten Scherret mit nur zwei unverfänglichen Zitaten zu Worte kommen läßt.

Aber keine politische Sensibilität hätte ihn gehindert, die von Günter Grass mit einem Nachwort versehenen Memoiren des Syndikus der Jüdischen Gemeinde in Danzig, des Juristen Erwin  Lichtenstein („Bericht an meine Familie“, 1985) zu verwerten. Doch die Ausfälle betreffen nicht allein die zeithistorisch relevante Bellestristik oder das Genre der Erinnerungs- und Reiseliteratur, sondern ferner die ja nach Hayden White von fiktiven Erzählungen strukturell nicht zu unterscheidende „Geschichtsprosa“ Danziger Historiker, die Gattung der Kunst- und Architekturdarstellungen, für die Namen wie Otto Kloeppel, Erich Volmar oder Willi Drost stehen, oder auch die Germanistik der TH Danzig in Langfuhr, die Loew mit dem etwas dümmlichen Hinweis auf  „regimekonforme“ Arbeiten Heinz Kindermanns glaubt abtun zu können („Die Technische Hochschule war kein literarischer Ort“).

Kaum beachtet wurde zudem die „Heimweh“-Literatur der vertriebenen Danziger nach 1945. Schmerzlich vermißt man den von unserem Flaneur weitgehend ignorierten „historischen Roman“, der zwischen 1860 und 1930 seine Glanzzeit hatte. Dessen Verfasser siedelten sich gern an der Mottlau an. Daß etwa Else Sparwasser mit „Atmosphäre“ nicht geizen wollte, die sie aus den Versatzstücken einer „authentischen“ Stadtbild-Staffage erzeugte, kündigt ihre Romanbiographie über den Stadtbaumeister Anthony van Obbergen bereits auf dem Einband des von den Danziger Neuesten Nachrichten verlegten Opus an, den Obbergens Zeughaus von 1602 schmückt. Loew hingegen wartet für eines der „prächtigsten Bauwerke der Stadt“ wieder nur einfallslos mit einem „Blechtrommel“-Zitat auf. Um die „Textur der Stadt“ in ihrer ganzen Vielfältigkeit zu erschließen, in der sie „in den Werken der Historiographie, in Romanen, Gedichten“, aber auch ihren Bauten und Monumenten „konserviert“ ist, hätte diese Identifizierung der Hansestadt mit dem „Grass-Land“ der „Danziger Trilogie“ nicht derart ins Extrem getrieben werden müssen wie in diesem Reiseführer.

Peter Oliver Loew: Literarischer Reiseführer Danzig. Acht Stadtspaziergänge. Verlag Deutsches Kulturforum östliches Europa. Potsdam 2010, gebunden, 407 Seiten, Abbildungen, 19,80 Euro

Foto: Danziger Altstadt mit Rathausturm, Marienkirche und Krantor von der Mottlau gesehen; Danziger Günter Grass: „Kritisch“ gefiltertes Detailwissen präsentiert

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen