© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Wir haben uns finanziell ruiniert
USA: Staatliche Schuldenobergrenze von 14,3 Billionen US-Dollar soll erhöht werden / Bonität in Gefahr
Patrick J. Buchanan

Als die Wehrmacht 1940 die französischen Linien durchbrochen hatte, flog der britische Premierminister Winston Churchill nach Frankreich, um sich mit seinen in Bedrängnis geratenen Verbündeten darüber zu beraten, wie der deutsche Vormarsch aufzuhalten sei. „Wo ist die strategische Reserve?“ fragte er den Oberbefehlshaber der französischen Truppen, General Maurice Gamelin. „Aucune“, erwiderte dieser. „Wir haben keine.“ Die Franzosen hatten keine Reserven aufzubieten, die die Deutschen daran hindern konnten, ihr Land zu überrennen. Die Schlacht um Frankreich war verloren.

Die Obama-Regierung befindet sich heute in einer ähnlichen Bredouille. Ihre offensive Strategie, um eine schnelle und starke wirtschaftliche Erholung herbeizuführen, ist allem Anschein nach nicht aufgegangen. Weder das 800 Milliarden Dollar schwere Konjunkturpaket noch die Handelsdefizite, die sich in den letzten drei Haushaltsjahren durchschnittlich auf 1,4 Billionen Dollar beliefen, noch der massenhafte Aufkauf fauler Papiere durch die US-Notenbank Fed, geschweige denn die Bonds im Wert von 100 Milliarden Dollar, welche die Fed bis zum 30. Juni Monat für Monat aufkaufte, konnten das anämische Wachstum der ersten drei Monate dieses Jahres aufrechterhalten oder gar beschleunigen. Eine „Double-dip“-Rezession (Konjunkturrückgang, gefolgt von kurzem Aufschwung, dem ein Einbruch folgt) scheint wahrscheinlicher als je zuvor.

Die Regierung hoffte, daß sich der Aufwärtstrend vom April mit einer Viertelmillion neuen Arbeitsplätzen fortsetzen würde. Statt dessen waren es im Mai gerade einmal 55.000. Damit stieg die offizielle Arbeitslosenquote wieder auf 9,1 Prozent. Der Aufschwung im produzierenden Gewerbe verkehrte sich ins Gegenteil, dort gingen fünftausend Arbeitsplätze verloren. Das Verbrauchervertrauen ging ebenfalls zurück.

Die fetten Jahre im Westen sind ein für allemal vorbei

Mittlerweile stehen US-weit zwei Millionen Häuser leer, und die Preise rutschen in den Keller. Ein Viertel aller Häuser sind weniger wert als die auf ihnen liegenden Hypotheken. Fed-Vizechefin Janet Yellen gibt offen zu, daß sie mit ihrem Latein am Ende ist: „Wenn ich in die Zukunft blicke, sind leider keine schnellen oder einfachen Lösungen für die Probleme in Sicht, unter denen der Immobilienmarkt noch immer leidet.“ Die Erholung werde sich „lange hinziehen“. Ein weiterer Rückgang der Hauspreise um zehn bis 25 Prozent in den kommenden fünf Jahren würde ihn „keineswegs überraschen“, pflichtet Yale-Ökonom Robert Stiller bei, der Erfinder des S&P/Case-Shiller-Indexes für Immobilienpreise.

Allmählich beginnt die miserable Wirtschaftslage sich auf die Stimmung im Lande und die Einstellung der Amerikaner zu ihrem Präsidenten auszuwirken. Fast neunzig Prozent sind der Meinung, daß die US-Wirtschaft schlecht bzw. furchtbar schlecht dasteht. Sechzig Prozent meinen, das Land sei auf dem falschen Weg. 48 Prozent rechnen mit einer erneuten Großen Depression im nächsten Jahr. Unter vierzig Prozent halten Obamas Wirtschaftspolitik für richtig. Laut einer jüngst veröffentlichten Umfrage liegt der republikanische Präsidentschaftsanwärter Mitt Romney derzeit mit 49 zu 46 Prozent vor Obama.

Die Frage, die sich nun für Obama, für den Kongreß, ja für das ganze Land stellt, lautet: Wie soll es weitergehen? Fed-Chef Ben Bernanke hat bereits signalisiert, daß das im Juni ausgelaufene Programm des Aufkaufs von Schuldverschreibungen nicht fortgesetzt werden wird. Nun müssen anderswo Käufer für jene 1,2 Billionen Dollar Schulden pro Jahr gefunden werden.

Angesichts der stagnierenden bzw. abflauenden Konjunktur sind Obamas Demokraten im Kongreß immer weniger gewillt, allzu gravierende Haushaltskürzungen vorzunehmen, während die oppositionellen Republikaner ihrerseits wohl kaum Steuererhöhungen zustimmen werden, um das Milliarden-Haushaltsloch zu stopfen. Welche Wirtschaftslehre würde auch Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen als Heilmittel für eine stagnierende oder kurz vor der Rezession stehende Volkswirtschaft empfehlen?

Aufgrund der Wahrnehmung einer wirtschaftlichen Stagnation sinkt nicht nur die Wahrscheinlichkeit, daß es in der Haushaltsfrage zu einer Einigung zwischen Republikanern und Demokraten kommt, auch die Verhandlungen über die Schuldenobergrenze von 14,3 Billionen US-Dollar scheinen an einem toten Punkt angelangt. Die Republikaner fordern, daß jede Erhöhung der Schuldengrenze Dollar für Dollar mit Haushaltskürzungen in gleicher Höhe einhergeht. Und die Bevölkerung steht offenbar hinter dieser Position: Erst wenn der Senat und das Weiße Haus Ausgabenkürzungen von zwei Billionen Dollar zustimmen, kann die Schuldengrenze um zwei Billionen erhöht werden.

Der US-Regierung wird zwar erst im August das Geld ausgehen, ihre Rechnungen zu bezahlen. Doch die Märkte werden schon viel früher ihr Urteil darüber fällen, wie wahrscheinlich eine Zahlungsunfähigkeit der USA ist.

Wie konnte das passieren? Warum wurde das reichste und stärkste Land der Welt so bald nach seinen Triumphen im Zweiten Weltkrieg und im Kalten Krieg vom Schicksal des spanischen Kolonialreichs und des britischen Empire ereilt, die einen ähnlich rapiden Verfall erlebten? Antwort: Wir haben uns überdehnt. Wir haben uns finanziell ruiniert. Wir haben uns der Verteidigung von Ländern überall in der Welt verpflichtet, die wenig mit unseren überlebenswichtigen nationalen Interessen zu tun haben.

Wir haben unnötige Kriege ausgetragen. Wir haben Billionen in Entwicklungshilfe an undankbare und unfähige Empfänger, an Opportunisten und Diebe ausgeteilt. Wir haben unseren Senioren lebenslange Renten und subventionierte medizinische Versorgung versprochen und vergessen, die notwendigen Beträge dafür auf die hohe Kante zu legen. Wir haben zugelassen, daß die Hälfte der US-Arbeitnehmer unter die Steuergrenze fällt, und gleichzeitig einen riesigen Wohlfahrtsstaat gegründet, wie ihn sich nicht einmal Norman Thomas und seine Sozialisten in den dreißiger Jahren erträumt hätten.

Die fetten Jahre sind ein für allemal vorbei – nicht nur für die USA, sondern für den gesamten Westen.

 

Patrick J. Buchanan war mehrfach US-Präsidentschaftskandidat. Er ist Mitbegründer der Zeitschrift „The American Conservative“.

Foto: Exorbitante Lasten: Insgesamt sind die USA, Firmen und Private eingerechnet, mit etwa 350 Prozent der Jahreswirtschaftsleistung verschuldet

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