© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  27/11 01. Juli 2011

Ein Akt des Opportunismus
Wehrpflicht: Während der Revolution in der DDR bei der Nationalen Volksarmee / JF-Serie, Teil 11
Christian Dorn

Die Soldaten waren mal wieder „vorbeimarschiert, im gleichen Schritt und Tritt“. Vor allem wußten wir Erstkläßler an der Anne-Frank-Schule Halberstadt – einer während des Dritten Reiches errichteten Kaserne –, daß wir als Jungpioniere „freudig“, mit einem expliziten „Juchhei!“ mitzulaufen hatten und später einmal genauso „Soldat sein“ wollten „wie sie.“ Natürlich wollten wir nicht. Doch das war nicht die Frage, sondern die erste Lektion: Das Lippenbekenntnis, der Zwang zur Lüge. Das obligatorische Lied über die „guten Freunde“ in der Volksarmee gehörte ebenso zur Liturgie in der „Erziehung zur sozialistischen Persönlichkeit“ wie das Ritual des Fahnenappells, dem – so schien es mir – allwöchentlichen Gottesdienst des ersten Arbeiter- und Bauernstaates.

Am 1. November 1989, kurz vor „Toresschluß“ – einer absurden Metapher, mit der Nacht des 9. November öffnete sich ja das Brandenburger Tor – erfolgt dessen letzter Zugriff. Es ist die reguläre Einberufung zum eineinhalbjährigen „Ehrendienst“ in der „Nationalen Volksarmee“, der mich in den Norden der Republik nach Sanitz (Grundausbildung) und zum Einsatzort Rövershagen / Hinrichshagen führt – aus Angst vor dem berüchtigten Armeeknast in Schwedt. Dort, so droht die kirchliche Vertretung des Stasi-Anwalts Wolfgang Schnur, erwarte mich – sollte ich nach der Einberufung noch zu den Bausoldaten wechseln wollen – eine fensterlose Zelle, deren Zugang nur ein meterhohes Loch sei, durch das man kriechen müsse.

Wenige Tage später ist plötzlich alles anders – und doch nicht. Denn die Alternative heißt vermeintlich „Fahnenflucht“. So wächst täglich meine Distanz zu der sich rasant verändernden Wirklichkeit, in die ich glaube nicht übertreten zu können, ohne „meine Heimat“ gleichzeitig gen Westen zu verlassen. Die Schizophrenie dieses Zustands zeigt sich bei Elend. Der Ort bildet Mitte November den Grenzübergang in den Westharz nach Braunlage, in den ich mit Eltern und Großmutter einen Ausflug mache – und mich fast übergeben muß. Keine Woche zuvor, unmittelbar nach dem Mauerfall, waren wir in der Garnison noch vergattert worden: Als Geheimnisträger gelte für uns für die nächsten 15 Jahre strengstes Reiseverbot. Die „BRD“ und die übrigen Staaten des „Nichtsozialistischen Wirtschaftsgebietes“ wären solange für uns tabu. Plötzlich durften wir nach der Vereidigung – während der Eidesformel ahmten meine Lippen einen lautlosen Fisch nach, ein lächerlicher Akt des Widerstands – nach Hause fahren und sogar den Westen besuchen. Was, wenn alle Rekruten drüben geblieben wären? Doch es kamen alle zurück. Der bescheuertste Rückkehrer aber war ich selbst – und zwar schon Ende September.

Da hatte ich in Budapest am Flüchtlingslager der deutschen Botschaft darauf verzichtet, in den Bus gen Westen zu steigen, obwohl ich – wie in einem Märchen – dreimal hintereinander gebeten worden war, einzusteigen. Doch ich, auf einmal ganz allein auf dem verlassen Feldlager, hatte abgelehnt mit einer Notlüge: „Ich warte noch auf jemanden.“ Ich Idiot wollte zurück, ich bildete mir ein, sonst „meine“ Geschichte zu verpassen. Das hatte die DDR immerhin erreicht: Ich fühlte mich diesem totalitären Gesellschaftsentwurf auch noch in meiner Gegnerschaft zugehörig. Zwar waren auch meine Eltern und Freunde Gründe, zurückzukehren – und dennoch. Ich wollte das, was da kommen mußte, unbedingt miterleben.

Doch statt dessen saß ich dann – der ich noch den 9. Oktober in Leipzig und die ersten Versammlungen in der Halberstädter Martinikirche erlebt hatte – im Nachtdienst der Bunkerlandschaft in Rövershagen, wo der Luftraum zwischen Nato und Warschauer Pakt überwacht wurde. Meine Tätigkeit als „Fernschreiber“ bestand darin, codierte Schreiben aus dem Empfangsgerät zu nehmen und weiterzuleiten. Habe ich das aber wirklich getan? Schon damals verwechselte ich, ob wir nun selbst „Fußbremse“ waren und die anderen „Fahrenheit“ oder umgekehrt. Entscheidend war, daß ich – wenn ich das Empfangskabel entfernt hatte – an dem Gerät Schreibmaschineschreiben lernen konnte. Trotzdem mußte ich mein Entlassungsgesuch in den Zivildienst – bewilligt im April 1990 (ich hatte als Domführer schwäbische Touristengruppen durch den Halberstädter Dom zu geleiten) – mit der Hand schreiben. Mein Wehrdienst war ein Akt des Opportunismus. Hoffentlich der letzte.

Name: Christan Dorn

Dienstzeit: 11/1989-4/1990

Dienstgrad: Gefreiter

Einheit: Funktechnische Truppe

Garnison: Sanitz, Rövershagen

Foto: Demonstrierende NVA-Soldaten (Januar 1990): Umbruch

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