© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Der Flaneur
Ungeschehener Unfall
Josef Gottfried

Türkenstraße im Juni, Münchner Maxvorstadt, Tempo-30-Zone, eine Gegend mit Ladenlokalen in den Erdgeschossen der Mehrfamilienhäuser. 36 Grad im Schatten, Cafés, Antiquariate, elegante Geschäfte, Studenten, „Yuppie Scum“ und wohlhabende Alternative. Der Bürgersteig ist schmal, so daß vor den Cafés nur Platz für eine Reihe Tischchen bleibt. An so einem sitze ich und trinke meinen dritten Kaffee, schwarz. Also muß ich aufstoßen und bemerke meinen sauren Mundgeruch. Das schüchtert mich ein, aber ich schaue trotzdem einer mageren jungen Dame hinterher, die von rechts nach links an mir vorübergeht.

Meinen Kopf nach links gewendet, höre ich von rechts quietschende Reifen, erst einen leisen Knall, dann einen lauten. Ich wende meinen Kopf vom Mädchen zum Unfall. Ein angefahrener Radfahrer, zwei Autos mit Blechschaden. Einige Leute springen auf, ein Kneipier wählt die 112, dem Radfahrer wird eine Jacke unter den Kopf gelegt, der Fahrer des vorderen Fahrzeuges klagt über Nackenschmerzen.

Andere Fahrzeuge kommen an der Unfallstelle nicht mehr vorbei. Der Verkehr staut sich sofort über die Schellingstraße hinaus. Fußgänger müssen die Straßenseite wechseln, um am Radfahrer vorbeizukommen. Er blutet, in der windstillen Hitze beißen die Abgase. Ich zahle und verlasse das Café, während ein Notarzt und die Polizei herbeihasten. Dann schlendere ich in den Englischen Garten, treffe einen Freund und Ausländerinnen. Wir trinken Wein auf der Wiese vor dem Monopteros, quatschen, lesen uns Ringelnatz-Gedichte vor.

Nach zwei Stunden stehen wir auf, ich bin schon rotgesichtig. Wir entschließen uns, mehr Wein zu trinken und gehen in die Türkenstraße. Dort fließt der Verkehr wieder normal, nichts erinnert mehr an den Unfall. Ich muß wieder aufstoßen, jetzt vom Rotwein, wieder dieser saure Mundgeruch.

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