© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

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Jugendmedizin: Exzessiver Medienkonsum erzeugt Verhaltensstörungen / Postume Bestätigung für US-Warner Neil Postman
Christoph Keller

Der 2003 verstorbene Medienkritiker Neil Postman hat dem Fernsehen das „Verschwinden der Kindheit“ angelastet. Bis zur Erfindung dieses Heimkinos waren Kinder- und Erwachsenenwelt streng geschieden. Denn den lieben Kleinen blieb der Zugang zur Wirklichkeit der Erwachsenen weitgehend versperrt, da sie nicht lesen konnten. Die Bilderflut des Fernsehens beseitigte diese Barriere und vermittelt im Zuge der „totalen Enthüllung“ Inhalte, die mit dem Schamgefühl auch moralische Hemmungen frühzeitig abbauen, so Postman.

Am liebsten untermauerte er seine plakative These mit der Statistik zur US-Jugendkriminalität. Von 1950, als die ersten Kinder dem TV-Einfluß ausgesetzt waren, bis 1980 schnellte die Zahl der Jugendstraftaten um 11.000 Prozent empor. Da allein die US-Kinderprogramme 2009 zu 60 Prozent Gewaltinhalte aufweisen, die Kinder inzwischen auch per Internet und Computerspiel abrufen und die Jugendkriminalitätsrate seit 1980 weiter anstieg, scheint Postmans grobkörnige Botschaft, die Darstellung von Aggressionen erzeuge Aggressionen, heute unverändert gültig. Die diesbezügliche Forschung ersetzt lediglich sein deterministisches Vokabular und spricht von hohen Wahrscheinlichkeiten, denen zufolge aggressive Medieninhalte nicht gesetz-, aber regelmäßig aggressive Verhaltensformen bedingen.

Auch die jüngste deutsche Studie über „Exzessiven Medienkonsum und Verhaltensauffälligkeiten“ bei Vorschulkindern (Das Gesundheitswesen, 5/11) wagt, methodologisch den US-Untersuchungen verpflichtet, nur vorsichtige Korrekturen etwa an simplen Konstruktionen von „Kausalitäten“ anzubringen, die man als „möglich“ einschätzt, die Postman freilich um des eigenen Medienerfolgs willen für ein Naturgesetz ausgab. Wissenschaftler des Münchener Instituts für Soziale Pädiatrie und Jugendmedizin und des Bayerischen Landesamts für Gesundheit werteten über 5.000 in Städten und Landkreisen des Freistaates verteilte Elternfragebögen aus, um die Hypothese eines Zusammenhangs zwischen TV-Konsum und Verhaltensstörungen bei fünf- bis sechsjährigen Kindern zu verifizieren.

Das Resultat liegt durchaus auf Postmans Linie, jedoch sind die Ursachen und Wirkungen erheblich komplexer als von ihm unterstellt. So mußten eine Reihe von Risikofaktoren wie familiäre Probleme, Schulbildung der Eltern oder Migrationshintergrund in Rechnung gestellt werden. Sie bedingen den exzessiven kindlichen TV-Konsum eventuell, steigern ihn und lassen ihn in Fehlverhalten umschlagen. Markante Unterschiede, vor allem beim biographisch langfristigen Einfluß des Fernsehens, sind zudem geschlechtsspezifisch: Unter exzessiven Medienkonsumenten, also jenen, die den von der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung fixierten Wert für Drei- bis Fünfjährige – maximal 30 Minuten täglich – mit bis zu drei Stunden deutlich überschreiten, sind Jungen häufiger vertreten als Mädchen.

Prinzipiell steht damit der Zusammenhang zwischen TV-Konsum und Verhaltensauffälligkeiten außer Frage. Einige Einschränkungen dieser US-Erkenntnis sorgen doch für Verblüffung, ohne daß die Forscher dafür eine Erklärung anböten. So treten allgemeine emotionale Probleme, asoziales Verhalten, Hyperaktivität oder Aufmerksamkeitssyndrome bei Mädchen auf, die exzessiv fernsehen, während solche Abweichungen schon bei Jungen zu messen sind, die „normal bis exzessiv“ schauen.

Noch überraschender ist der unkommentierte Befund, demzufolge niedrige elterliche Schulbildung oder Migrationshintergrund nichts mit der „signifikanten Assoziation“ zwischen ausuferndem Mediengenuß und auffälligen Verhaltenswerten zu tun hätten.

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