© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Die heimliche Transferunion
Der Volkswirt Franz-Ulrich Willeke über die enormen Geldtransfers von Berlin nach Brüssel seit 1991
Rolf Dressler

Die Euro-Milliarden rauschen nur so den Bach hinunter unter den diversen sogenannten Rettungsschirmen. Doch um die fortwährende Geldbeschaffung müssen sich die Herrschenden bei uns in „Euroland“ nicht wirklich sorgen. Denn alles, was nötig ist, erwirtschaftet bekanntlich das kapitalistische System. Eine Kernfrage, die auf der Hand liegt, wird aber merkwürdigerweise von kaum jemandem konkret gestellt: Wohin genau und auf welche Bankkonten in den maroden bis bankrotten EU-Mitgliedsländern werden jene horrenden Nothilfe-Milliarden eigentlich Mal um Mal überwiesen? Auf wessen Veranlassung und in wessen Verantwortung, nach welchen Kriterien und in welche Kanäle, Projekte und Institutionen läuft sodann die Weiterverteilung der astronomischen Gelder? Und vor allem: Wie und von wem dort wird deren Verwendung seriös, unabhängig und verläßlich kontrolliert?

Die Antwort darauf mag schwierig zu finden sein, zumal die Hauptakteure auf der europäischen Bühne nach Kräften mauscheln, mauern und verschleiern. Einer, dem dieses Gebaren schon seit langem über die Hutschnur geht, ist Franz-Ulrich Willeke, emeritierter Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Heidelberg. Der Titel seines neuesten Buches ist Programm: „Deutschland, Zahlmeister der EU – Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung“. Gleichwohl schreibt Willeke sich darin nicht etwa nur einfach Ärger oder gar Zorn von der Seele. Vielmehr gelingt ihm eine lebendige, vortrefflich sachliche, durch Fakten belegte Bestandsaufnahme – und eine leidenschaftliche, besonders informative Analyse, die zudem Auswege aus der fatalen Sackgasse aufzeigt.

Der geneigte Leser braucht nur eins und eins zusammenzuzählen, um nachzuvollziehen, daß Deutschland schon seit eh und je und erst recht seit der Wiedergewinnung der deutschen Einheit der größte Nettofinanzierer der Europäischen Union ist. Und zwar durchgängig und mit großem Abstand vor allen anderen Partnerstaaten und sogar weit vor immerhin noch vergleichsweise starken Volkswirtschaften wie denen Frankreichs oder Englands. Es ist kaum zu glauben, stimmt aber trotzdem aufs Haar genau: Seit 1991 steuert das deutsche Volk wohlgemerkt jeden Tag im Durchschnitt satte 54 Millionen Euro zum Brüsseler EU-Haushalt bei.

Höchst anschaulich wird diese permanente Verzerrung der Verhältnisse zu Lasten Deutschlands anhand der tabellarischen Übersichten in Franz-Ulrich Willekes verdienstvoller und unbestechlich präziser Gesamtdarstellung. Engagiert, aber mit kühlem Verstand, nimmt Willeke den EU-Beschönigern und Lobhudlern den Wind aus den Segeln. Er erinnert daran, daß Deutschlands Netto-Geldverschickung gen Brüssel im Verlaufe der 1990er Jahre zeitweilig bis auf einen Löwenanteil von sage und schreibe 73,3 Prozent an sämtlichen Nettozahlungen aller EU-Mitgliedsländer emporschnellte; dieser absolute Spitzenwert datiert aus den Jahren 1991 bis 1994, im gesamten Zeitraum von 1991 bis 2008 war der deutsche Staat, besser: das hiesige Steuerzahlervolk, der EU mit einem Nettozahleranteil von exakt 49,9 Prozent zu Diensten. Auch das wahrhaftig kein Pappenstiel.

Tatsächlich also „transferierte“ Deutschland, die willige Melkkuh, von 1991 bis 2008 netto 146 Milliarden in die Brüsseler EU-Zentralkassen; jeder zweite Euro kam demnach aus Berlin. Den realen Größenverhältnissen und dem volkswirtschaftlichen Gewicht der EU-Mitgliedsländer angemessen wären jedoch deutsche Nettobeiträge von 84,9 Milliarden Euro gewesen. Mit anderen Worten: Die herrschende Klasse der EU-Hochjubler mutete uns Deutschen allein für die Jahre 1991 bis 2008 einen ultradicken Brocken von rechnerisch 61,1 Milliarden zuviel berappten Nettozwangszahlungen an Brüssel zu.

Das rechnet Willeke glasklar vor. Und er verweist auch darauf, daß – „wie bei der Bildung von Kartellen üblich“ – auf den obersten EU- und Regierungsebenen offenbar jeweils schon das bloße stillschweigende Einvernehmen genügt, um sich auf die Festlegung und Fortschreibung der Nettozahlungen an Brüssel zu einigen. Deshalb, fügt Willeke hinzu, dürften die übrigen Mitgliedsstaaten „eher belustigt“ gewesen sein, als einst Deutschlands SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder mit einem zumindest leichten (Wahlkampf-)Anflug von Verärgerung anzumerken wagte, daß ihm Deutschlands Dauerrolle des EU-Zahlmeisters nicht sonderlich gefalle. Wie zum Hohn hätten sie Schröders Bemerkung für sich vielmehr sogar dahingehend gedeutet, „daß auf deutscher Seite ein auf trockenen Humor gegründetes hinreichendes Einverständnis vorliegt, genauso weiterzumachen wie bisher“.

Indes gibt nicht nur der aktuelle Staatspleitekandidat Nummer eins, Griechenland, zu schlimmen Befürchtungen Anlaß. Denn ähnlich wie ehedem die legendären Eulen werden wieder und wieder Dutzende Milliarden Euro nach Athen getragen, oder richtiger: geschaufelt – geradewegs in die Hände ausgerechnet jener zählebigen Machtbesitzer, die den Staatskarren über Jahrzehnte hin vor die Wand gefahren haben. Es gibt doch nicht den geringsten Anlaß, darauf zu hoffen oder gar zu bauen, daß die verbohrten Sozialisten in Griechenland, Portugal, Spanien oder anderswo im Klub der Euro-Länder über Nacht von Polit-Hallodris und Meistern der Selbstbereicherung zu Hütern klassischer Kaufmannstugenden mutieren. Nicht von ungefähr äußert auch Franz-Ulrich Willeke die Ansicht, daß solche aberwitzigen Geldeinsackaktionen die Empfänger nur noch anfälliger machen für Korruption und andere verwerfliche Missetaten.

Dabei geht auch ihm nicht aus dem Sinn, was Luxemburgs Premier Jean-Claude Juncker, ein Laut-Sprecher auf dem EU-Parkett, verblüffend locker und augenscheinlich sehr wirklichkeitsnah zum besten gibt: „Wir beschließen etwas, stellen das dann in den Raum und warten einige Zeit ab, was passiert. Wenn es kein großes Geschrei gibt und keine Aufstände, weil die meisten gar nicht begreifen, was da beschlossen wurde, dann machen wir weiter – Schritt für Schritt, bis es kein Zurück mehr gibt ...“

Wenn das kein entlarvendes Bekenntnis ist! So haben wir uns das ganze Politikgeschäft eigentlich ohnehin immer schon vorgestellt.

Franz-Ulrich Willeke: Deutschland, Zahlmeister der EU. Abrechnung mit einer ungerechten Lastenverteilung. Olzog Verlag, München 2011, broschiert, 160 Seiten, 19,90 Euro

Foto: Brüssel als Geldverteiler deutscher Steuergroschen: Größter Nettofinanzierer der Europäischen Union – durchgängig und mit großem Abstand vor allen anderen

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