© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Rettender und geretteter Engel
Rotes Haar, prägnantes Gesicht, sonore Stimme: Der Schauspieler Otto Sander wird siebzig
Harald Harzheim

Hochhaus, obere Etage: Ein Kind auf dem Balkon, verliert den Halt, stürzt hinab. Der Engel Cassiel sieht das Unglück, schreit auf vor Verzweiflung, vor Schmerz. Das Mädchen fällt, immer tiefer, immer näher zum tödlichen Aufprall. Cassiel weiß: Ein Engel kann kein Unglück verhindern. Nur trösten. Aber er versucht das Unmögliche ... Vielleicht fangen seine Arme die Kleine ja doch ... Alles ist besser als tatenlos zusehen ... Und ... Ja! Er hat sie aufgefangen! Die kleine Raissa lebt. Im Moment radikaler Entscheidung ist Cassiel zu Materie, ist er Mensch geworden.

Die Szene stammt aus „In weiter Ferne, so nah!“ (1993), Wim Wenders Fortsetzung seines Kinoerfolgs „Der Himmel über Berlin“ (1987). Diesmal stand die Figur des Cassiel im Mittelpunkt, die im ersten Teil bloße Nebenrolle war. Dessen Darsteller, Otto Sander, betrachtet nicht nur das Elend des Menschen, er spürt es in jeder Faser, erleidet es in seinem Körper, seiner Stimme, seinem Blick. Wenn er, durch die Rettungsaktion zum Menschen geworden, nicht mehr den Himmel, nicht mehr seine Engelsfreundin Raphaela (Nastassja Kinski) sehen kann, die transzendentale Obdachlosigkeit der Erdbewohner selbst erfahren muß, dann graust es auch dem Zuschauer.

Oder, wie Otto Sander als Karl Liebknecht mit flammender Rede im Tierpark („Rosa Luxemburg“, 1985) selbst politische Gegner aufwühlt. Wie er aus Richard Wagner einen gutmütigen Tolpatsch macht („Wahnfried“, 1987). Wie er sich als James Joyce imFernsehspiel „Der Fall Ezra Pound“ (1974) über den verrückt-genialen US-Dichter wundert, usw. – Jeder, der Film und TV nicht konsequent meidet, hat Glanz-Szenen mit diesem Schauspieler abrufbar.

Und wer zwischen 1970 bis zu den frühen Neunzigern die Berliner Schaubühne besuchte, besitzt auch Erinnerung an seine Bühnenpräsenz: So in Botho Strauß’ „Schlußchor“ (1993) beispielsweise, wenn Sander als Architekt Lorenz die Peinlichkeit zu überspielen sucht, daß er seine Auftraggeberin (Corinna Kirchhoff) zuvor im Bad gesehen hat.

Das prägnante Gesicht, sein feuerrotes Haar und die vielfach für Synchronisation und Hörbücher eingesetzte, sonore Stimme – all das ist so unverwechselbar wie wandlungsfähig.

Dabei wollte der am 30. Juni 1941 in Hannover als ältester Sohn eines Flottilleningenieurs geborene, in Kassel und Peine aufgewachsene Otto Sander eigentlich Regisseur werden, studierte deshalb Theaterwissenschaften, Germanistik, Literaturwissenschaft, Kunstgeschichte und Philosophie an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität. 1964 folgte der Wechsel zum Schauspielunterricht an der Otto-Falckenberg-Schule. Sein Temperament wurde im Institut nicht geduldet: Bald schon feuerte man ihn wegen „ungebührlichen Betragens“. Otto Sander konnte das egal sein; den Abschluß holte er extern nach, und die Karriere begann noch im gleichen Jahr. 1968 kam der Jungschauspieler an die Freie Volksbühne Berlin, damals unter der Intendanz von Claus Peymann, ehe er 1970 zu Peter Steins Schaubühne wechselte.

Trotz zahlreicher Kassenerfolge, als U-Boot-Kommandant Philipp Thomsen in „Das Boot“ (1981) von Wolfgang Petersen oder in Joseph Vilsmaiers „Comedian Harmonists“ (1993), wurde Otto Sander niemals ein „Star“. Zwar erhielt er 1979 den Deutschen Kritikerpreis in der Sparte Theater und gleich zweimal, 1980 und 1989, den Deutschen Darstellerpreis für die herausragendste schauspielerische Leistung des Vorjahres. Doch sein Poster im Jugendzimmer? Undenkbar. Ähnlich hochkarätigen Schaubühnen-Kollegen wie Bruno Ganz oder Jutta Lampe „fehlt“ ihm der Mainstream-Glamour, er lockt Zuschauer „lediglich“ ins Programmkino. Dem Schauspieler Sander haftet das Etikett „Hochkultur“ an, mag er auch als Sprecher in „Werner“-Cartoons oder als Darsteller im Trash-Thriller „Kondom des Grauens“ (1996) mitmischen.

Übrigens, den usprünglichen Berufswunsch des Regisseurs erfüllte sich Sander später doch noch, verfilmte Georges Courtelines Farce „Die ganz begreifliche Angst vor Schlägen“ (1977) und drehte – gemeinsam mit Bruno Ganz – den Doku-Kurzfilm „Gedächtnis“ (1982), ein Doppelporträt der Schauspieler Curt Bois und Bernhard Minetti.

Eine ganz andere Art von Prominenz erlangte Otto Sander als Stiefvater von Meret und Ben Becker, die im gleichen Metier wie er Karriere machten. Sie als Schauspielerin und Chanson-Sängerin, während er, ebenfalls Schauspieler, den „Proll am Abgrund“ verkörpert, das Gegenstück zum Hochkultur-Image des Stiefvaters.

Dann 2006 die furchtbare Zäsur: Speiseröhrenkrebs. Lebensgefahr, Schluß mit Spiel und Sprechen. Sein persönlicher Sturz vom Balkon. Aber auch ihn schien ein Engel aufzufangen. Denn der aggressive Krebs wurde geheilt: „Mit Chemie und Strahlen in der höchsten Dosis, die es gibt“, erzählte der Schauspieler. Inzwischen spielt er wieder, so in Samuel Becketts „Das letzte Band“. Und erst im vergangenen Jahr erhielt er den Deutschen Vorlesepreis.

Zu seinem siebzigsten Geburtstag in der kommenden Woche ist Otto Sander zu wünschen, daß er sein „letztes Band“ noch lange nicht besprochen hat, die klangvollen Stimmbänder ihm lange treu bleiben.

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