© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  26/11 24. Juni 2011

Das verlorene Königreich
Wehrpflicht: Moritz Schwarz tri­ t Anfang der neunziger Jahre in Mitteldeutschland auf Gold- und Graumänner / JF-Serie, Teil 10
Moritz Schwarz

Ob es diesen Ort überhaupt je gab? Ich weiß es nicht. Mit jedem Jahr werden die Schleier dichter, das dahinter unmerklicher. „Hier kommt keine Kaserne mehr ...“ „Nein ... glaub’ ich auch nicht ... laß uns umdrehen.“ Nebelgrau endete bereits der Tag, als die zwei mich auf dem menschenleeren Marktplatz aufgabelten: „Auch zur Asche? ... Dann steig ein!“ Dunkelheit durchwob inzwischen den Wald an diesem eisigen 2. Januar. Dann aber brach sie doch noch aus dem Schwarz zwischen den Bäumen: die Kaserne.

Ein gutes Jahr zuvor war die Mauer gefallen, und mir war klar: So weit wie möglich nach Osten! Je weiter, je tiefer, je wilder – je besser! Freitags nach Hause? Das konnten die anderen machen, ich würde das Land erkunden: Dresden, Leipzig, Zwickau, Chemnitz, Bautzen, Görlitz – was das Jahr hergab.

Das war mir gelungen, nun war ich hier, und die Kaserne lag obendrein in einer Wildnis; wer hier wochenends über Land streifte, traf keine Seele. Noch verlorener aber: die Kasernen selbst. Waren Freitags fast alle nach der Heimat in Marsch gesetzt, quoll aus ihrem Gemäuer, was sich seit Montag dort vor den vierhundert Mann in Winkeln und Ecken, in Rissen und Spalten versteckt hielt: das Grau, die Einsamkeit, die Leere, die Verlorenheit. Die Zeitlosigkeit trat schlurfend aus dem Schatten, um ihr verlorenes Königreich zu bauen und der Stillstand durchwucherte uns ... Ich glaube, es vergingen nicht weniger als hundert Jahre, bis die Kameraden Montags zurückkehrten und den Zauber brachen. Keiner von ihnen ahnte, was wochenends vor sich gegangen war. Und wir wenigen schwiegen. „War was?“ „Nein, nichts ...“

Nur einer wußte, was hier vor sich ging. Dieser eine war der Heizer. Ich glaube nicht, daß je einer von uns ihn zu Gesicht bekommen hat, aber er war da. Lastkraftwagen karrten regelmäßig tonnenweise Kohlen heran und hinterließen, abgekippt, eine Mondlandschaft, ein schwarzes Gebirge, fast fußballfeldgroß. Dunkelheit fiel über die Gipfel, Nacht für Nacht ... nichts ... Dann, irgendwann, schlag drei oder vier ein Scharren, Kratzen und Schaufeln. Anderntags fehlte ein gehöriges Stück Kraterland, dafür stieg Rauch auf, die Heizung gurgelte, und die Dusche lief wieder warm.

Dann waren da die Goldmänner – und die Graumänner. Die Goldmänner lachten meist, sie waren aufgeräumt und sagten an. Die Graumänner waren still und fügten sich. Die Goldmänner hatten einen Krieg gewonnen – der gar nicht stattgefunden hatte, und das verstanden die Graumänner nicht. Dabei waren sie einst begierig und bereit gewesen, zu kämpfen und selbst zu siegen. Aber die Goldmänner standen ganz ohne Schlacht eines Morgens vor ihrem Kasernentor und verlangten gut gelaunt die Übergabe. Seitdem erklärten die Goldjungs den Grauen, wie Krieg und Soldatsein geht, und die Grauen guckten ungläubig und verstanden nichts ... Aber die meisten von ihnen, schweigsam und zurückhaltend, waren ernste Männer, denen das Zerbrechen ihrer Welt Furchen ins Gesicht gezogen hatte, während die funkelnden Goldenen ihre heiligen Hallen schändeten, ohne sich dessen überhaupt bewußt zu sein. In die stillen, ernsten Verlierer verliebte ich mich aber schon am ersten Tag und bald hasste ich die ewig gutgelaunten Besatzer weit mehr als sie es taten, die längst nur noch suchten, mit dem was unabänderlich war, ihren Frieden zu machen.

Ich weiß gar nicht, warum es hier von Beginn an nach Verwesung roch, aber alles trug den Keim des Untergangs in sich. Fast alles hier hatte einst zur Welt der Grauen gehört, und weit im Westen hatte man beschlossen, daß nichts davon übrigbleiben sollte. So vernichteten wir jeden Tag ein Stückchen unserer Welt, verschrotteten Fahrzeuge, vernichteten Ausrüstung, zersägten Tische, Stühle, Schränke. So verschwand die Welt um uns, Hallen und Häuser leerten sich. Der Schirrmeister hängte ein dickes Schloß davor und sperrte die Ewigkeit darin ein.

Bevor das Ende aber kam, wurde es Sommer und wieder Winter. Und vor dem großen Sterben war es meine Zeit, die abgelaufen war. Ich kehrte zurück in die Kälte, aus der ich gekommen war. Wenige Tage vor Weihnachten verließ ich nach dem goldenen Westen diesen Ort, dessen heimliches, finsteres Leuchten nur die Wenigsten gesehen hatten und das bis heute in mir nachglüht.

 

Name: Moritz Schwarz

Dienstzeit: 1/1992 - 12/1992

Dienstgrad: Gefreiter

Einheit: ABC-Abwehrtruppe

Garnison: Bad Düben

Foto: Moritz Schwarz erklärt den Sinn des Zapfenstreichs: Von den Kameraden aus dem Fenster gehängt

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