© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Preußisch-Litauen
Chronik aus dem Memelland
Christoph Nehring

Die Frage, die Günter Uschtrin für den Titel seines Buches gewählt hat, „Wo liegt Coadjuthen?“, taugt, RTL eine Million Euro zu sparen. Denn selbst mit Telefonjoker dürfte es für Günther Jauchs Kandidaten hier eng werden. Kaum einer wird den letzten ostpreußischen Ort vor der 500 Jahre stabilen Nordostgrenze der Provinz, jenseits der Memel, laut Shell-Straßenatlas von 1939 exakt 32 Kilometer nördlich von Tilsit, geographisch zuordnen können. 

Über seine Heimat, den Spinnenwinkel Preußisch-Litauens, hat Uschtrin mit Bienenfleiß und peinlichster Sorgfalt zusammengetragen, was die Akten über die Lokalgeschichte vor allem während der Frühen Neuzeit verraten.

Für das 19. und 20. Jahrhundert versammelt er hingegen in seinem vorzüglich mit Fotos und historischen Karten ausgestatteten Band vermehrt Exzerpte aus gedruckten Quellen. Die sprudeln ergiebig für jene Jahre, in denen Coadjuthen als Teil des 1919 durch das Versailler Diktat vom übrigen Reich abgetrennten „Memelgebiets“ in die Welthändel geriet. Litauen annektierte 1922 die Stadt Memel und ihr Hinterland, ein völkerrechtswidriger Gewaltstreich gegenüber den deutschen wie den „kleinlitauischen“ Bewohnern der Grenzregion, den Uschtrin sowenig beschönigt wie die Kownoer Unterdrückungspolitik bis zur Befreiung und Wiedereingliederung ins Deutsche Reich im März 1939.

Breiten Raum nehmen Zeitzeugenberichte aus dieser „Litauerzeit“ wie aus dem Kriegsalltag nach 1939 ein. Da die Memeler Landkreise im Oktober 1944 rechtzeitig vor der Roten Armee evakuiert wurden, bleiben dem Leser sonst in Ostpreußens Chroniken unvermeidliche Schilderungen sowjetischer Greuel erspart, nicht aber die Leidensgeschichten von Flucht, Vertreibung, Verschleppung, Heimatverlust. Als Vertreter der „sarmatischen“ Literaturlandschaft, die man sonst mit den Werken Ernst Wicherts, Hermann Sudermanns oder Johannes Bobrowskis assoziiert, präsentiert Uschtrin den Spätexpressionsiten und Kleist-Preisträger Alfred Brust (1891–1934), den ebenso wie Herbert Brust (1900–1968), den Komponisten des „Ostpreußenliedes“ („Land der dunklen Wälder ...“), familiäre Wurzeln an Coadjuthen binden.

Günter Uschtrin: Wo liegt Coadjuthen? Die Geschichte eines ostpreußischen Kirchspiels im ehemaligen Memelland, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2011, 530 Seiten, Abbildungen, 39 Euro

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