© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Das Geraune vom Ende der Naturwissenschaft
Eine kritische Musterung angelsächsischer Alarmmeldungen / Kühne Fortschritte in den Lebenswissenschaften denkbar
Rolf Jeschke

Im angelsächsischen Raum mehren sich Stimmen, die sensationalistisch das „Ende der Naturwissenschaften“, ja der Wissenschaft überhaupt ausrufen. Schwarzseher wie der britische Astronom Martin Rees (University of Cambridge) stellen dabei überhaupt jeden Erkenntnisfortschritt in Frage, weil das menschliche Gehirn, ursprünglich zum Überleben in der Savanne entwickelt, mittlerweile an der Peripherie seiner Möglichkeiten, Kosmos, Geist und Leben zu verstehen, angelangt sei.

Andere wie der britische Kernphysiker Russell Stannard („The End of Discovery“, Oxford 2010) wähnen hundert Jahre nach dem von Max Planck, Albert Einstein und Werner Heisenberg geprägten „goldenen Zeitalter der Physik“ zumindest die Naturwissenschaften an den Grenzen des Wißbaren. Gerhard Börner (Max-Planck-Institut für Astrophysik Garching), der diese kleinmütigen Alarmmeldungen kolportiert (Spektrum der Wissenschaft, 6/11), muß ihnen weitgehend beipflichten.

Denn auch ein historisch beispielloser finanzieller Aufwand für die Großforschung habe nicht die erhofften grundsätzlichen Erkenntnisse gezeitigt, sondern eher „Ernüchterung“ um sich greifen lassen. Allein die USA hätten in jüngster Zeit 100 Milliarden Dollar in die Biowissenschaften gepumpt. Doch solche staatliche Großzügigkeit habe primär den Papierausstoß vervielfacht. Wie am Journal of Biochemistry abzulesen sei, das von 12.000 (1980) auf fast 100.000 Seiten (2009) anschwoll, die eher Masse denn Klasse böten. Doch im Gegensatz zu Stannard und Rees sieht Börner die Naturwissenschaften nicht pauschal in die Endstation einlaufen. Allerdings konzediert er, die alten Leitdisziplinen Physik und Kosmologie befänden sich tatsächlich auf einem Niveau, das „revolutionäre Durchbrüche“ nicht mehr erwarten lasse.

Man habe die Geburt des Universums aus dem Urknall erklärt und Geheimnisse der Materie gelüftet, aber für die peinigende Frage, was vor dem Urknall war, ist die Physik nicht zuständig – sie verweise auf „metaphysische Bereiche“. Vor ähnlich „letzten Fragen“ kapitulierten derzeit zwar auch die Biowissenschaften, die unvorstellbare Datenmengen häufen, ohne den Prinzipien der genetischen Vererbung auf die Spur zu kommen oder die Entstehung des Bewußtseins aus exakt meßbaren elektrischen Strömen in den Neuronen des Gehirns herleiten zu können.

Leben und Geist sind offenbar weiterhin nicht auf ihre materiellen Komponenten, auf naturwissenschaftlich quantifizierbare Prozesse reduzierbar. Kein Wunder also, wenn zwischen kostspieligen ambitiösen Zielen und praktischen Erträgen in der biotechnologischen Großforschung, etwa bei der Krebsbekämpfung, eine enttäuschende Lücke klafft. Aber anders als in der Physik seien in den Lebenswissenschaften noch kühne Fortschritte der Forschung denkbar.

Obwohl gerade beim Thema Krebs schon manche Hoffnung zuschanden wurde, könnten Molekularbiologen aus ihren Datenfluten eines fernen Tages Einsichten hervorzaubern, die das Tor zu „effektiven Heilmethoden“ in der Krebstherapie aufstoßen. Nur sollte man derartige Durchbrüche vielleicht eher von eigensinnigen Querdenkern als von der Großforschung erwarten.

Weiterführende Informationen unter: www.spektrum.de

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