© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

„Von der Verteidigung zum Angriff übergehen“
Im Mai 1941 hielt Stalin vor Absolventen der sowjetischen Militärakademien einen richtungweisenden Vortrag über die Stärke Deutschlands
Stefan Scheil

Im Mai 1941 übernahm Stalin, bis dahin lediglich Parteivorsitzender ohne Staatsamt, offiziell die Regierungsgewalt in der UdSSR. Einen Tag zuvor hatte er zu den Absolventen der sechzehn Militärakademien gesprochen. Dabei stellte er die Situation Deutschlands als labil dar. Ähnlich wie dies nach dem Sieg von 1918 in Frankreich und England der Fall gewesen sei, seien der deutschen Armeeführung die Erfolge zu Kopf gestiegen. So erklärte sich Stalin den weiterhin bescheidenen Umfang der deutschen Rüstungsvorbereitungen: „Sie bilden sich ein, daß sie alles können, daß ihre Armee stark genug ist und daß es keinen Sinn macht, sie nachzurüsten.“ Die Folgerungen daraus waren klar: „Eine Armee, die sich für unbesiegbar hält, die meint, sie brauche keine Vervollkommnung, ist zur Niederlage verurteilt.“

Darin erschöpften sich die deutschen Probleme aber keineswegs, denn zu der Arroganz in der Leitung der bewaffneten Macht gesellte sich nach Stalins Analyse als weiteres Problem die wirtschaftliche und ideologische Überdehnung Deutschlands als Folge der bis dahin eingetretenen Militärerfolge: „Deutschland begann den Krieg unter dem Motto ‘Befreiung von Versailles’. Und es gewann das Mitgefühl der Völker, die unter dem Versailles-System litten. Jetzt aber setzt Deutschland den Krieg unter der Flagge der Eroberung, der Unterwerfung anderer Völker, unter der Hegemonieflagge fort. Das ist ein großer Nachteil für die deutsche Armee. Sie hat nicht nur die Sympathie einer Reihe von Völkern und Ländern eingebüßt, sondern steht auch in Konfrontation mit vielen von ihr besetzten Ländern. Die Armee, die sich feindlichen Territorien und Massen gegenübersieht, ist einer richtigen Gefahr ausgesetzt.“

Für Stalin waren die Folgerungen eindeutig, was die deutsche Armee anging: „Sie kann besiegt werden.“ Dabei erwartete er nicht, es könnte vielleicht eine englisch-amerikanische Landung die Ursache solcher Niederlagen sein. Die Rede vor dem Offiziersnachwuchs diente der Einstimmung auf einen kommenden offensiven Krieg gegen Deutschland: „Jetzt aber, da wir unsere Armee umgestaltet haben, sie reichlich mit Technik für den modernen Kampf ausgestattet haben, da wir stark geworden sind, jetzt muß man von der Verteidigung zum Angriff übergehen.“

Zehn Tage nachdem Josef Stalin Anfang Mai 1941 dies gesagt und schließlich offiziell die Staatsführung übernommen hatte, legte der Generalstabschef der Roten Armee, Georgi Schukow am 15. Mai 1941 einen aktualisierten Bericht über die Angriffsvorbereitungen der Roten Armee vor. Er ist als Schukow-Plan bekannt geworden. Schukow spricht darin davon, die Deutschen könnten den sowjetischen Absichten zuvorkommen und betont diesen Punkt selbst: „Wenn man in Betracht zieht, daß Deutschland sein gesamtes Heer einschließlich rückwärtiger Dienste mobilisiert hat, so besteht die Möglichkeit, daß es uns beim Aufmarsch zuvorkommt und einen Überraschungsschlag führt.“

Angesichts dessen ging Schukow seinerseits davon aus, die sowjetischen Pläne beschleunigen zu können, danach die deutschen Truppen in einem Monat zu überrennen und Breslau zu erreichen. Dann sollte nach Norden und Süden geschwenkt werden, um die deutsche Wehrmacht ganz besiegen zu können. In einem abschließenden Kapitel ließ er Stalin wissen, Befehle für den „Übergang zum Angriff“ seien bereits gegeben – ein Element, das regelmäßig übersehen wird.

Der Schukow-Plan widerlegt einige der am häufigsten kolportierten Legenden über das Unternehmen Barbarossa, da er nicht nur die Existenz konkreter sowjetischer Angriffspläne und die tatsächliche Mobilmachung der Roten Armee belegt, sondern auch das Wissen der sowjetischen Armeeführung über den präventiven Charakter der deutschen Vorbereitungen nachweist und zudem der Beweis ist, daß sich die Generalität der hochgerüsteten Roten Armee die Führung eines Angriffskriegs zutraute und daß sogar erste Angriffsbefehle bereits gegeben waren.

Das alles ließe sich noch weiter fortsetzen. Zahllose Details fügen sich zusammen und lassen den Schluß zu, daß die Rote Armee sich im Juni 1941 bereits in der Vorwärtsbewegung für den militärischen Angriff befunden hat. Es gab keinen Grund mehr, den großen Krieg nach mehr als einem Jahrzehnt der Planung und politischen und militärischen Vorbereitung noch länger aufzuschieben.

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