© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

„Willkür und Bösartigkeit“
„Osteuropa“-Heft: Aufsatz zum Chodorkowski-Prozeß
Christian Dorn

Nach dem Entscheid des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) für Menschenrechte in Straßburg, der Ende Mai die Klage des Ex-Ölmagnaten Michail Chodorkowski auf eine Einstufung seines ersten Verfahrens als eines politischen, gesteuerten Schauprozesses abgewiesen hat, kommt der jüngsten Ausgabe „Amnesie International. Justitia, Memoria, Judaika“ der Zeitschrift Osteuropa (4/2011) eine besondere Rolle zu.

Zwar hatten die sieben EuGH-Richter einstimmig die unrechtmäßige Inhaftierung Chodorkowskis und die erniedrigende Behandlung des inhaftierten Kremlkritikers während des ersten Prozesses gerügt, doch an der Anklage selbst keine grundsätzlichen Zweifel geäußert. Dieser Freispruch für die russische „Telefonjustiz“ (Leutheusser-Schnarrenberger) dürfte aber nur von kurzer Dauer sein. Denn spätestens der zweite Strafprozeß gegen Chodorkowski, durch den dieser Ende 2010 zu vier weiteren Jahren Haft bis 2016 verurteilt wurde, dürfte auch vom EuGH als ein eindeutiger Akt politischer Willkürjustiz klassifiziert werden.

Diesen Schluß legt zumindest der Osteuropa-Beitrag „Verhöhnung des Rechts“ des Hamburger Rechtswissenschaftlers Otto Luchterhandt nahe. Detailliert wie nirgend sonst im deutschsprachigen Raum dokumentiert der Jurist die politische Steuerung des Prozesses. Er beginnt symbolisch mit der Urteilsverkündung Ende Dezember 2010: „Richter Danilkin leierte den Text des Urteils teilnahmslos herunter, verhaspelte sich oft, so als ob er einen fremden Texte verlese, mit dem er gerade erst bekannt geworden sei.“ Beispielhaft hierfür sind die von Luchterhandt zitierten Augenzeugenberichte, denen zufolge Teile des Urteils noch während der Verkündung hereingereicht worden seien.

Luchterhandts Resümee: „In jedem Stadium des zweiten Strafprozesses gegen Chodorkowski und Lebedew wurde laufend gegen die Verfassung, die Strafprozeßordnung und das Strafgesetzbuch verstoßen.“ Dabei übertreffe das zweite Strafurteil „das erste bei weitem an Willkür und Bösartigkeit“ und sei „ein bestürzendes Dokument der zynischen Verdrehung des Rechts“. Anlaß für diese Einschätzung sind nicht nur die Absurdität der Anklage, die vom Gericht ignorierten – weisungsgebenden – Urteile des Wirtschaftsgerichts oder das mehrere Monate zurückgehaltene Gerichtsprotokoll. Für jeden, der sich mit dem Fall Chodorkowski beschäftigt, ist dieses Osteuropa-Heft Pflichtlektüre.

Osteuropa, Heft 4/2011, „Amnesie International. Jusitia, Memoria, Judaika“, 182 Seiten, broschiert, 10 Euro

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