© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Natur und Gnade
Kryptisches Bilderrätsel: Terrence Malicks Film „The Tree of Life“ mit Brad Pitt und Sean Penn
Sebastian Hennig

Dem Film „The Tree of Life“ ist ein Zitat aus dem Buch Hiob vorangestellt: „Wo warst du, als ich die Erde gründete?“ Hinweise auf das Schicksal des großen Dulders unter den Propheten wiederholen sich im Film. Gleich danach ist die Rede von einem Lebensratschlag der Nonnen, welche die Mächte der Natur und der Gnade gegenüberstellen und ihrem Zögling letztere empfehlen.

Regisseur Terrence Malick (67) ist ein Melodramatiker von Format. Daß er dabei trotzdem weit entfernt bleibt vom naseweisen Moralismus und der oberflächlichen Sozialromantik all der anderen modernen Schmachtfetzen, zeugt für eine geradezu kindliche Anschauung der Welt, die keine Weltanschauung im ideologischen Sinne ist. Das Wissen um Gut und Böse ist ihm eine verbotene Frucht.

Die visuellen Verästelungen und Verzweigungen von „The Tree of Life“, der beim Filmfestival in Cannes Mitte Mai die Goldene Palme gewann, bieten ein Bukett von Rätseln, die alle aus der einen unsichtbaren Wurzel hervortreiben. Licht und Wetter formen die Gestalt des fortschreitenden Wachstums. Wiederholungen schürzen die Rätselknoten fester. Wer hier durch Analogieschlüsse etwas erklären möchte, der sägt am Totholz. Der rote Faden ist allein der Blutstrom des innersten Lebens selbst, der alle künstlerischen Äußerungen Malicks verbindet. Sein vorletztes Werk über die Schlacht um Guadalcanal hieß überdeutlich „The Thin Red Line“. Das wurde vom deutschen Verleih als „Der schmale Grat“ wiedergegeben. Dieser Kriegsfilm war teils so idyllisch, wie die Idylle um den Baum des Lebens oft kriegerisch verläuft.

Nach der Introduktion werden Aufnahmen von vulkanischen Eruptionen unter Wasser, Pulsieren und Beben, stürzende Massen und planetarische Bewegungen fast unabsehbar gereiht, so daß den Zuschauer die Sehnsucht nach einem menschlichen Gesicht ergreift, den Gesichtern der Eltern, die anfangs ihre ganze Fassung verloren, als ihnen der Tod des Sohnes mitgeteilt wurde, und das Gesicht des Bruders (Sean Penn), der auf dem Gipfel geschäftlichen Erfolges um eine vertretbare Fassung seines Lebens ringt.

Eine Handlung gibt es eigentlich nicht. Gedanken einzelner Personen werden laut. Nur die Mutter (Jessica Chastain) hat keine. Sie ist pures vegetatives Dasein ohne Reflexionen. Einmal schwebt sie über der Wiese oder liegt als ein Schneewittchen im Glassarg. Das Dasein und Handeln aller Figuren rechtfertigt sich aus sich selbst und unterliegt keiner Wertung. Jeder Ansatz zur Bewertung wird dem Zuschauer mit der Dramaturgie der Bilder sofort ausgetrieben. Die Umstände, von denen die Menschen belagert sind, entschuldigen nichts, aber sie lassen auch jedes Urteil abprallen. Dabei sind sie weder nur elend noch absolut glanzvoll.

Die Maßlosigkeit vieler aktueller Kinoprodukte legt dem sensiblen Betrachter inzwischen nahe, den Kinosaal als eine Hinrichtungsstätte des Bildlesevermögens zu meiden und sich allenfalls dem auf erträglichen Maßstab geschrumpften Film auf dem heimischen Monitor auszusetzen. Hier aber handelt es sich um einen der wenigen Filme, der auf der großen Leinwand atmet. Er ist ernst und sentimental, aber ohne jede Ironie.

Ein anderer Gigant des amerikanischen Kinos, John Ford, vermied es stets, von movie zu reden. Er bezeichnete seine Werke als picture. Bei Terrence Malick ließe sich noch genauer von landscapes sprechen. Schon bei dem ersten seiner nur fünf Filme, „Badlands“ (1973, dt. „Zerschossene Träume“), ist die Umgebung mindestens ebenso wichtig wie die Personen. Das Gelände ist die Tafel, auf der die Handelnden ihre Bahnen ziehen. Und diese Spuren erst formen das Gebiet zur Landschaft.

Der Anteil des Kameramannes an dieser filmischen Landschaftsgärtnerei ist immer beträchtlich gewesen. So auch diesmal. Dabei gibt es keinen wirklich neuen oder ungewöhnlichen Kniff. Wirklich selten ist aber die empfundene Willkürfreiheit der raffinierten Perspektiven. Die Fotografie ist ästhetisch, ohne sich geschmäcklerisch zu verzetteln. Eine derartige cineastische Materialgerechtigkeit wie bei „The Tree of Life“ ist heute seltener denn je geworden. Die naturwissenschaftlichen Aufnahmen und die Trickeffekte vermitteln keine sterile Perfektion, sondern verleihen dem Ganzen zeitweilig sogar etwas Rührendes und Verschossenes, so wenn zwei Saurier in einem Flußbett Rangkämpfe austragen. Die filmspezifischen Möglichkeiten bewirken eine größere Eindringlichkeit als die jener albernen 3D-Animationen, die zwangsläufig am Viereck der Leinwand zerstieben. Der Film verschleiert für die Dauer seines Verlaufes die Grenzen der Projektion, nichts vom Guckkasten der Theaterbühne ist merklich.

Die orchestergewaltige Musik von Mahler, Bach und Berlioz reguliert den episodischen Verlauf und stiftet etwas opernhaft Artifizielles. In einer Szene greift der gestrenge Vater (Brad Pitt) auf der Kirchenorgel eine Toccata von Bach. Üblicherweise aber läuft er über die Stahlbühnen großer Industriekomplexe und widmet sich feierabends sorgenschwer und zerstreut seinen Söhnen. Sein autoritäres Verhalten bedeutet eine zeitgemäße Tatsache, keine beklagenswerte Charakterschwäche. Die 1950er Jahre wurden nicht gewählt, um mit den Folgen einer repressiven Erziehung ins Gericht zu gehen, sondern weil es sich um einen Zeitraum handelt, der gerade nah und weit genug entfernt ist, um noch überschaubar und noch nicht verklärt zu sein.

Erstaunlich ist, wie selbstverständlich und glaubhaft die Darsteller der Knaben wirken. Auch der Eros ist so fein und selbstverständlich gegenwärtig, daß nichts leichter entbehrt werden kann als die Explosionen des Geschlechts, mit denen das Kino die Voyeure in uns umwirbt. Zum Gesang eines „Agnus Dei“ schreitet der erwachsene Sohn Jack zuletzt in einer Steinwüste durch ein beziehungslos errichtetes Tor und erreicht an den Gestaden des Meeres Versöhnung und Vereinigung. Zum Pathos der Musik bläst der Seewind in die Gischtflocken am Strand.

Der Film ist eine Rechtfertigung der Gestalt des menschlichen Lebens. Großartige Bilderfolgen werden errichtet, die einen kryptischen Sinn ergeben, der sich der wörtlichen Wiedergabe verschließt. Seine Sprachskepsis und sein Bildvertrauen sind dem studierten Philosophen Mailick früh aus der Beschäftigung mit Martin Heidegger und Ludwig Wittgenstein erwachsen. Das Nachdenken über das Bilderrätsel dieses Filmes ist verbunden mit jenem über das eigene Leben. Beidem läßt sich ausweichen.

Fotos: Mrs. und Mr. O‘Brien (Jessica Chastain und Brad Pitt): Das Dasein und Handeln aller Figuren unterliegt keiner Zuschauer-Bewertung; Vater O‘Brien mit seinem Sohn Jack ( Hunter McCracken) …; … und Jack (Sean Penn) als Erwachsener: Verlorene Seele

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