© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Nation und Europa
Publizistik: Der schon abgeschriebene Nationalstaat erlebt in Debatten eine zögerliche Renaissance
Karlheinz Weissmann

Bis dato war die Auffassung, daß die Ära des Nationalstaats zu Ende gehe, konsensfähig. Nach allgemeiner Überzeugung sollten supranationale Organisationen an seine Stelle treten, lediglich zurückgebliebenen Gemeinschaften sei gestattet, mit Hilfe von nation building den Vorsprung derjenigen aufzuholen, die bereits glücklich im postnationalen Zeitalter angekommen waren.

Der Staatsrechtslehrer Erich Röper (Bremen) brachte die Erwartung auf die Formel vom „Auslaufmodell Nationalstaat“, und entsprechend freundlich fiel seine Vision Europas aus. Die Mitglieder der EU würden „aufgehen in einer staatlichen Föderation neuer Form. (…) Es wird sprachliche Vielfalt geben, vermutlich mit Englisch als lingua franca. Es wird keine vorherrschende Religion und Kultur geben, zu verschieden sind vor allem die regionalen Traditionen. Es wird keine formale Demokratie mit Zählwertgleichheit aller Stimmen nach deutschem Muster geben, sondern das Austarieren dicht und dünn besiedelter, großer und kleiner Gebiete mittels Mandatskontingenten, wie heute in Norwegen, Spanien oder Großbritannien.“ Es werde, so Röper weiter, „eine politisch bunte, damit friedliche Gemeinschaft vieler, nicht nur in Staaten organisierter Völker sein, anders als jede vereinheitlichende Homogenität heutiger Staatlichkeit. Damit ist dieses Vereinte Europa ein Vorbild für weltweite Friedlichkeit.“

Röpers Vorstellung war repräsentativ für die politisch-mediale Klasse dieses Landes, aber sie entsprach auch dem, was die breite Mehrheit als Konsequenz der Entwicklung erwartete. Heute erscheint das alles irgendwie angestaubt, „altes Denken“, das mit Gewißheiten rechnete, die fragwürdig geworden sind. Man merkt dem Text Röpers an, daß er im Frühjahr 2007, also vor dem Platzen der Spekulationsblase, vor der Bankenkrise, vor der Auseinandersetzung um die Intervention in Libyen und vor dem Staatsbankrott Griechenlands erschienen ist. Seitdem macht sich eine zunehmende Irritation bemerkbar, ein Zweifel an den Segnungen dessen, was nach der Nation kommen wird.

Sichtbaren Ausdruck finden die Vorgänge auf ganz verschiedenen Ebenen: von der Debatte um die Wiedereinführung der Kontrollen an der dänischen Außengrenze und der Opposition gegen die Erweiterung des Schengen-Raums über das Kursieren eines internen CSU-Papiers, das jede weitere Abtretung von Hoheitsrechten an Brüssel kritisiert, bis zum sacro egoismo Italiens bei der Flüchtlingspolitik und dem unerwarteten Höhenflug des Front National in Frankreich, weil sich die Partei auf den Standpunkt stellen kann, daß sie in ihrer Europa-Skepsis vollauf bestätigt wurde.

Wenn diese Vorgänge als Reflexe auf die veränderte Lage zu deuten sind, bleibt um so bemerkenswerter, daß der Nationalstaat auch unter den Intellektuellen neue Freunde gewinnt. Das gilt vor allem für die Linke. Man muß dabei gar nicht zuerst an Jürgen Elsässer und den Kreis um die Zeitschrift Compact denken, der seit längerem an der Neuverknüpfung des Sozialen und des Nationalen arbeitet. Aufschlußreicher ist eine Stellungnahme von René Cuperus in der SPD-nahen Zeitschrift Berliner Republik. Cuperus behauptet, daß die wachsende Europa-Skepsis einen rationalen Kern habe: „Es ist völlig legitim und nachvollziehbar, wenn die Menschen mißtrauisch sind gegenüber einem angehenden Imperium von 450 Millionen Menschen. Dieses Mißtrauen wurzelt in Sorgen um Demokratie und Menschenrechte ebenso wie in nationalistischen Gefühlen. Die Beweislast, daß die Hyperkonstruktion eines Superstaates sui generis samt Mehrebenenregierung im Hinblick auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und effektives Regieren tatsächlich ein historischer Fortschritt ist, liegt bei denen, die für ein größeres, mächtigeres, immer engeres Europa plädieren.“

Cuperus geht es um die „Politikerpolitik“ in Brüssel, die fast zwangsläufig Gegenbewegungen hervorbringt. Daß solche Populismen mit ihrem Appell an den kleinen Mann der natürliche Feind und Stimmenkonkurrent der Sozialdemokratie sind, beschweigt er allerdings.

Die Sorge vor dem Erstarken der „Schluß-jetzt-Fraktion“ teilt Cuperus mit Dirk Schümer, den man zwar nicht der Linken, aber dem politischen Mainstream zuschlagen kann. In einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vom 5. Juni hat er die Ursachen für das große Unbehagen zusammengefaßt. Die Überschrift „Zurück zur Nation“ verspricht allerdings mehr, als der Text hält. Schümer plädiert lediglich dafür, das Subsidiaritätsprinzip endlich ernstzunehmen und den Ausbau der EU nicht Technokraten wie Trichet zu überlassen, die von einer europäischen „Wirtschaftsregierung“ träumen.

Das Fehlen prinzipieller Argumente unterscheidet die deutsche Debatte signifikant von der französischen. Bei unserem Nachbarn im Westen ist schon seit zwei Jahren ein Wiederaufflammen der Diskussion über „Republik“ und „Nation“ zu beobachten, das die wachsenden Integrationsprobleme ausgelöst hat. Ergänzt wird die Debatte um die Stellungnahmen eines linken „Souveränisten“, der nicht zu den frisch Bekehrten gehört, sondern seit je für die Verteidigung des Nationalstaats eingetreten ist.

Jean-Pierre Chevènement veröffentlichte zuletzt ein Buch über das drohende „Ende Frankreichs“ und äußerte in einem Interview: „Betrachten Sie die Welt um uns herum: die Vereinigten Staaten, China, Indien, Brasilien, Vietnam, Iran, Türkei, alle diese Länder haben Selbstvertrauen, glauben an ihre Zukunft. Wir haben auch eine Zukunft, aber um Vertrauen in unsere Zukunft zu haben, müssen wir die Nation wieder in ihre Rechte einsetzen, nicht gegen Europa, sondern mit ihm, denn ich glaube, (…) daß Europa und die Nationen gleichberechtigte Größen sind. (…) die Geschichte ist zuletzt die Geschichte des europäischen Konzerts; man kann Europa nicht denken, unabhängig von seinen Nationen. Europa ist nicht Amerika. (…) Wir kommen aus der Tiefe der Geschichte.“

Wenn man die Entwicklung der vergangenen zweieinhalb Jahrzehnte, also den Zeitraum seit dem Zusammenbruch des Ostblocks, betrachtet, zeigt sich, daß die Debatte über die Zukunft des Nationalstaates nichts Neues ist. Nur die Akzente haben sich verändert. Ging es anfangs vor allem um die Frage, was ein wiedervereinigtes Deutschland für Europa oder das diplomatische System überhaupt bedeuten werde, natürlich gekoppelt mit Erwägungen über die „deutsche Gefahr“, bezog sich nach dem Scheitern des Maastricht-Vertrags und der wachsenden Zahl von failed states in der Zweiten und Dritten Welt die Wahrnehmung vor allem auf Entwicklungsstörungen, mit denen nach dem „Ende der Geschichte“ niemand gerechnet hatte.

Was sich jetzt anbahnt, hat dagegen mit Grundsatzfragen zu tun, das heißt damit, ob der Nationalstaat als Polis der Neuzeit tatsächlich durch etwas anderes ersetzt werden kann; wenn nicht, was dann die in der Nachkriegszeit eingeleitete Zersetzung der nationalen und kulturellen Homogenität bedeutet; schließlich, wie man sich eine schöpferische Restauration der Nation vorstellen könnte.

Erst damit ist das Entscheidende angesprochen. Denn die Existenz einer Nation beruht nicht nur auf objektiven Gegebenheiten – also der Einheitlichkeit von Herkunft und Kultur –, sondern auch und in besonderem Maß auf dem Vorhandensein eines „spezifischen Pathos“ (Max Weber). Die glaubensartige Überzeugung von der Wichtigkeit der eigenen Nation, die appellative Kraft, die dem Nationalen innewohnt, ist nicht durch einen Willensakt restituierbar. Die gegenwärtige Debatte ist von dieser Einsicht noch weit entfernt, ihr haftet etwas Konstruktivistisches an. Es geht in erster Linie um einen reaktiven Vorgang. Auch den haben kluge Beobachter der Fehlentwicklung Europas lange erwartet. Chevènement äußerte schon 1998: „Wenn es ernst wird, in Krisenzeiten, wenden sich die Völker immer an die Nation.“

Foto: Germania-Denkmal: Die Existenz einer Nation beruht nicht nur auf objektiven Gegebenheiten – also der Ein- heitlichkeit von Herkunft und Kultur –, sondern auch und in besonderem Maß auf dem Vorhandensein eines „spezifischen Pathos“ (Max Weber).

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