© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  25/11 17. Juni 2011

Sieg mit Pferdefüßen
Wahl in der Türkei: Erdoğan hat sein Hauptziel verfehlt / Opposition setzt Zeichen
Günther Deschner

Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan hat es geschafft, seine islamisch-konservative „Gerechtigkeits- und Fortschritts-Partei“ (AKP) zum dritten Mal in Folge zum Wahlsieg zu führen. Mit 49,9 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichte seine Partei gut drei Prozentpunkte mehr als vor vier Jahren. Sie erhält 326 Mandate und damit eine sichere Mehrheit zum Regieren des Landes.

Doch auch die wichtigste Oppositionspartei, die Republikanische Volkspartei (CHP), einst die Partei Atatürks, legte auf 25,9 Prozent zu und wird 135 Abgeordnete stellen. Die Partei war mit neuer Führung und neuem Programm angetreten. Ihr neuer Chef, Kemal Kılıçdaroğlu, mit Spitznamen „Ghandi“, weil er so bescheiden lebt, hat junge Politiker aufgestellt, die nicht mehr für den bürokratischen Zentralismus von Ankara warben, der sich auf Beamte, Militärs und Richter stützte, sondern die sich als moderne soziale Demokraten präsentierten. Auch daß Parteichef Kılıçdaroğlu aus einer alewitisch-kurdischen Familie stammt, gab dem Gegensatz zwischen der sunnitisch geprägten AKP und den Republikanern einen neuen Akzent. Denn die Alewiten gelten strengen Sunniten als „Ungläubige“, weil sich ihr volkstümlicher Glaube weit von der islamischen Orthodoxie entfernt.

Die nationalistische MHP erreichte trotz leichter Einbußen noch 13 Prozent und damit 53 Sitze im Parlament. Die Kurdenpartei BDP legte zu und wird mit 36 direkt gewählten Abgeordneten vertreten sein. Sie hatte ihre Politiker als unabhängige Kandidaten ins Rennen geschickt, um die Zehnprozenthürde zu umgehen.

Mit diesem Wahlausgang verpaßte die AKP die für eine Änderung der Verfassung im Alleingang nötige Zweidrittelmehrheit deutlich. Die alte Verfassung, 1982 noch von der damaligen Militärdiktatur verordnet, hat ohne Zweifel ausgedient – darin sind sich türkische Politiker einig. Doch nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament hätte Erdoğan seinen Plan, eine präsidiale Verfassung nach seinem Gusto zu verabschieden, durchsetzen können. Nach dem Wahlausgang muß er den anstehenden Entwurf einem Plebiszit unterstellen – und er wird deswegen die Opposition mit einbeziehen und eine Reihe von Zugeständnissen machen müssen, wenn er die Verfassung ändern will. Das politische Gleichgewicht in der Türkei bleibt damit gewahrt. Für die demokratische Entwicklung der Türkei ist das kein Nachteil.

Dennoch werden Erdoğan und seine Partei auch weiterhin das politische Maß vieler Dinge in der Türkei bleiben. Hintergrund des neuerlichen Wahlsieges dürften die Erfolge sein, die sich mit den acht Jahren seiner bisherigen Regierungszeit verbinden: Mit einer zunehmend florierenden Wirtschaft (in den letzten acht Jahren hat sich das Pro-Kopf-Einkommen der Türken verdreifacht, die Arbeitslosenzahlen sind im vergangenen März von 14,4 Prozent im Vorjahreszeitraum auf 11,5 Prozent gefallen!), mit der gefestigten inneren Stabilität und nicht zuletzt mit der „neuen Außenpolitik der erweiterten Einflußregion und der guten Nachbarschaft“ geht die Türkei einen eigenen Weg, der dem „türkischem Stolz“ entgegenkommt.

Genau diese Entwicklungen hatte die AKP im Wahlkampf in den Vordergrund gestellt. Auch für die Zeit nach der Wahl hatte Erdoğan bereits ambitionierte Projekte angekündigt. Dazu gehört der Bau eines zweiten Bosporus-Kanals, der bis zu zwei Millionen neue Arbeitsplätze schaffen soll, ebenso wie die Errichtung zweier neuer erdbebensicherer Städte vor den Toren Istanbuls und andere Großprojekte mehr.

Für das türkische Millionenblatt Hürriyet ist die AKP jedoch noch nicht am Ziel. Nun müsse die Türkei „lernen, zu teilen”, wurde kommentiert. Obwohl die AKP erneut gewonnen hätte, sei das Land immer noch in Befürworter und Gegner der Partei gespalten: „Bis jetzt ist es der Türkei – das als einziges Land der Welt den Islam, westliche Werte, Demokratie und islamistische Politik zusammenbringt – gelungen, diese beiden Hälften zu vereinen. Die Zukunft liegt jedoch im nächsten Schritt – und zwar die erste zivile Verfassung gemeinsam zu erstellen.“ Die AKP müsse erkennen, so das Blatt, „daß die säkulare Türkei, bestehend aus der Hälfte der Bevölkerung und vielen ihrer großen Unternehmen, zu groß ist, um sie zu ignorieren.“

Im Meinungsbild auch anderer großer Medien herrscht die Einschätzung vor daß die AKP in den abgelaufenen Regierungsperioden wichtige gesellschaftliche Veränderungen durchgesetzt hat. Zu einer signifikanten Islamisierung habe der Wandel nicht geführt. Dazu gehört im türkischen Kontext auch ein gesellschaftliches Klima, in dem sich die Muslime – 99 Prozent der Bevölkerung – nicht für ihre Religion schämen müssen, sondern diese ungestört ausüben können. Die Situation der religiösen Minderheiten ist noch nicht auf dem besten Standard, aber erste Schritte in die richtige Richtung werden der AKP selbst von ihren Gegnern bescheinigt.

Dazu paßt, daß mit dem von der Kurdenpartei BDP unterstützten jungen Rechtsanwalt Erol Dora erstmals seit dem Militärputsch von 1960 auch wieder ein christlicher Abgeordneter in die Volksvertretung in Ankara einziehen wird. „Seit einem halben Jahrhundert gab es keinen christlichen Parlamentsabgeordneten mehr“, unterstrich Dora im Wahlkampf. „Ich finde das nicht normal – und das muß sich ändern“, sagte der zu den rund 13.000 syrisch-orthodoxen Christen gehörende Dora, einer alten Gemeinde, die im Gottesdienst noch Aramäisch spricht, die Sprache Jesu. „Ich werde mich, falls ich gewählt werde, für die Rechte der Christen in der Türkei einsetzen und als ein türkischer Bürger für Demokratie im ganzen Land. Das ist für mich untrennbar.“

Foto: Recep Tayyip und Emine Erdoğan feiern den Wahlerfolg der AKP

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