© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Der Flaneur
Auf dem Kirchentag
Josef Gottfried

Verstört sitze ich auf einer großen Wiese. Evangelische Großveranstaltung. Auf der Bühne wird vorgetragen, die anderen zehntausend und ich hören halbherzig hin. Gewimmel, Geflüster, Geplauder, hier und da dösen Leute. Sanitäter huschen umher, sie transportieren mit Eifer und nicht ohne Stolz diejenigen ab, die das heiße Wetter dahingerafft hat. Niemanden schauen sie an, doch während sie Lagemeldungen funken, spüren sie unsere neugierigen Blicke. Die Hochmut erzeugende Wirkung lassen sie sich halb gefallen, halb an sich herunterlaufen. Sicher ein Gefühl, das ihren miserablen Stundenlohn ausgleicht.

Auf der Bühne fordert eine Rednerin uns zehntausend Fremde mit mühsam getragener Stimme auf, dem Nachbarn etwas Gutes zu wünschen. Daraufhin setzt rechts von mir eine einzelne Fremde an, mir Zuspruch zu leisten. Peinlich berührt starre ich auf den Boden vor mir und reagiere nicht.

Wie feierlich ist doch der Friedensgruß in der Heiligen Messe im Vergleich zu dieser Farce. Ich bekomme Gewissensbisse. Schließlich ist die Frau neben mir auch Christin. Was reitet mich, auf sie herabzuschauen? Vielleicht, weil sie beim von Jazz-Musik begleiteten „Kyrie eleison“ getänzelt und gewippt hat? Sicher habe ich nicht das Recht dazu.

Beim nächsten Lied schaue ich aus dem Augenwinkel zu ihr herüber. Sie folgt den Anweisungen der Rednerin, indem sie die erste Strophe wie ein zusammengefallener „Tropfen“ beginnt, um sich währenddessen aufzurichten und am Ende mit ausgestreckten Händen, stark und erwacht, dazustehen und weiter zu tänzeln. Zu den Gewissensbissen gesellt sich Fremdschämen. Niederträchtig schaue ich in die Runde und suche einen Gleichgesinnten, dem ich spöttisch zuzwinkern kann. Aber ich finde niemanden. Zum Fremdschämen gesellt sich Resignation.

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