© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

CD: Rossini
Stimme mit Zukunft
Marcus Brandstetter

Rossinis Ouvertüren kennt jeder, den Barbier von Sevilla kennen viele, aber Rossinis restliche 52 Bühnenwerke kennen nur wenige. Dabei enthalten diese eine Fülle herrlicher Belcanto-Arien. Allerdings sind diese so schwer zu singen, daß die Sopranistin Joan Sutherland sie einmal die „Stratosphäre des Gesangs“ genannt hat. In dieser dünnen Luft überleben seit jeher nur die Besten – Sängerinnen wie Maria Callas, Joan Sutherland, Teresa Berganza oder Cecilia Bartoli.

Und in diese eisigen Höhen wagt sich nun also Julia Lezhneva. Die junge Russin hat in Moskau und Cardiff studiert und mit ihren 21 Jahren schon mehr Preise eingeheimst als andere in einem ganzen Leben. Auf ihrer ersten Solo-CD singt sie sechs hochvirtuose Arien und Szenen aus ebenso vielen Rossini-Opern, die hauptsächlich der Gattung Opera Seria („große Oper“ im Gegensatz zur komischen „Opera buffa“) zuzurechnen sind. Obwohl die dunkel timbrierte Stimme der Russin bis in die Mezzoregister hinabreicht, darf sie nach Höhensicherheit und den perlenden Koloraturen als Koloratursopran gelten. Sie verfügt über einen klaren Triller und eine deutliche Artikulation. Die Stimme wirkt auch in pointierten Spitzentönen weder schrill noch gepreßt, wenn ihr auch ein großer dynamischer Umfang und ein festes Brustregister noch fehlen. Erfahrungsgemäß kann die Stimme einer Einundzwanzigjährigen aber nicht ausgereift sein. Bei Julia Lezhneva ist damit zu rechnen, daß ihre Stimme sich in den nächsten Jahren zu einem Koloratur-Mezzo entwickeln wird – eine Stimmlage, die heute am prominentesten die große Cecilia Bartoli verkörpert.

Die Russin braucht den Vergleich mit den Größten ihrer Zunft nicht zu scheuen. In der Cavatine der Semiramis aus dem 2. Akt („Bel raggio lusinghier“) kommt sie – auch in ihren stilsicheren Auszierungen – nahe an die Referenz-aufnahme der Sutherland heran und übertrifft die drei Versionen der damals (1961–1964) bereits „ausgesungenen“ Callas deutlich. Es erfreut besonders, daß – anders als bei Callas und Sutherland – die Vor- und Nachspiele ungekürzt erklingen; und wenn Rossini einen Chor vorschreibt, dann singt auf diesem Album auch einer.

Begleitet wird Lezhneva von der Sinfonia Varsovia, einem polnischen Kammerorchester, das 1984 von Yehudi Menuhin gegründet worden ist. Es dirigiert Marc Minkowski, ein französischer Spezialist für historische Aufführungspraxis der Barockmusik; gewiß ein erfahrener Orchesterchef, aber nicht unbedingt der Dirigent für italienische Opernmusik des 19. Jahrhunderts. Als Begleiter musizieren die Polen unter ihrem neuen Chefdirigenten präzise und unaufdringlich, doch die Ouvertüre zu „La Cenerentola“ offenbart Schwächen: Das Orchester kommt mitunter nicht auf den Schlag, im Allegro Vivace haben die Streicher Schwierigkeiten, die raschen Sechzehntel-Auftakte sauber anzuspielen, und ihr etwas asthmatisches Sul-ponticello-Spiel („am Steg“) dürfte ruhig zupackender klingen.

Aber das sind Kleinigkeiten, die das Gesamtbild nicht trüben. Hier haben wir es mit dem ersten Album einer fantastischen Sängerin zu tun, der eine große Zukunft bevorsteht – wenn sie mit ihren Kräften sparsam umgeht und sich Zeit nimmt, ihre Stimme, jenseits von Festspielhektik und Operntourismus, ausreifen zu lassen.

Julia Lezhneva, Opernarien Naive Classique, Hamburg 2011   www.www.indigo.de

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