© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  24/11 10. Juni 2011

Herausforderung für den Kreml
Fall Chodorkowski: Gerichtshof für Menschenrechte weist den Ex-Oligarchen in die Schranken
Alexander Rahr

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) sieht den Ex-Oligarchen Michail Chodorkowski nicht als politischen Gefangenen an. Viele Beobachter im Westen können das Verdikt des Straßburger Gerichts nicht nachvollziehen, denn sie sind überzeugt, daß Chodorkowski aus politischen Motiven verfolgt wird. Teilweise haben sie recht.

Michael Chodorkowski wurde in Rußland verurteilt, weil er den Staat betrogen hat. Er hat, wie andere Oligarchen in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts Modelle ausgetüftelt, wie er den Ölexport unter Umgehung der Steuerbehörden über Steuerschlupflöcher tätigen konnte. Der russische Staat profitierte bis 2002 kaum vom Energieexport. Chodorkowski und andere Ölbarone verkauften ihr Erdöl im Ausland für den siebenfachen Inlandspreis. Der Inlandspreis belief sich im Jahr 2002 auf 2,7 US-Dollar pro Barrel, verkauft wurde Öl für 22 US-Dollar pro Barrel. Versuche der Regierung, die Ölexporte mit Gewinnsteuern zu belegen, scheiterten an der korrumpierten Duma. Der Föderationsrat, die Oberkammer des Parlaments, bestand ebenfalls zu 40 Prozent aus Vertretern der Oligarchen.

Neben der Steuerhinterziehung in Milliardenhöhe, wegen der Chodorkowski offiziell angeklagt wurde, machte er sich jedoch in den Augen des Kremls gravierender politischer Vergehen schuldig. Chodorkowski begann vor den Duma-Wahlen 2003 die linken und rechten Oppositionsparteien zu finanzieren, um sich eine starke Position im künftigen Parlament zu sichern.

Für den Kreml wurde Chodorkowski zu einer Herausforderung. Nach dem Vorbild der Teilübernahme der russischen TNK-Ölgesellschaft durch British Petroleum, bemühte sich Chodorkowski um eine Verschmelzung mit Exxon Mobile. Dieser Schritt hätte dem Ölbaron einen westlichen Schutzschirm verpaßt: Russische Behörden hätten kaum noch gegen sie vorgehen können. Die neu geschaffene transnationale Energiegesellschaft unter Chodorkowskis Führung wäre in der Lage gewesen, 50 Prozent der russischen Inlandsversorgung mit Öl zu kontrollieren. Das gesamte sibirische Öl und womöglich die sibirische Wirtschaft wären der Oberaufsicht der russischen Regierung entglitten.

Chodorkowski hatte den ihm gehörenden Ölkonzern Jukos zu einem Spottpreis von 300 Millionen US-Dollar aus der Konkursmasse des Staatsbesitzes der untergegangenen Sowjetunion über ein fein ausgeklügelten Insidergeschäft erstanden. Nun wollte er die zur größten und unabhängigsten Ölgesellschaft aufgestiegene Firma für 40 Milliarden US-Dollar, also ein Zehnfaches des Kaufpreises, an einen amerikanischen Ölmulti abstoßen und sich mit dem Gewinn in die große Politik einkaufen. Zum ersten Mal hätte damit ein Oligarch das Volksvermögen für bares Geld ins Ausland verkauft. Das Beispiel hätte Schule machen können.

Der Kreml konnte nicht zulassen, daß 30 Prozent des nationalen Ölsektors mit einem Federstrich in internationalen Besitz übergingen, gerade in einer Zeit, als die Regierung Rußlands Energieressourcen für den politischen Aufstieg des Landes in die erste Liga der Weltpolitik instrumentalisieren wollte. Wie mächtig Chodorkowski gewesen ist, zeigte der Börsensturz drei Monate vor seiner Verhaftung. Der reichste Mann des Landes mußte nur sagen: „In Rußland wird eine Kapitalflucht einsetzen“, und die russische Aktienbörse verlor zehn Milliarden US-Dollar an Wert.

Die USA reagierten auf Chodorkowskis Verurteilung mit Entrüstung. Der Einstieg transnationaler Ölkonzerne in den russischen Markt, der in den neunziger Jahren so akribisch vorbereitet wurde, schien geplatzt. Der Energiedialog wurde auf Eis gelegt. US-Politiker riefen dazu auf, Rußland zu ächten, den im Jahre zuvor anerkannten Status als Land mit einer funktionierenden Marktwirtschaft zu entziehen, das Land aus der G8 zu werfen und sich kompromißlos bei den Verhandlungen über einen Beitritt Rußlands in die WTO zu zeigen. Wütend stimmten sie in den allgemeinen Chor westlicher Kritik an Putins „Diktatur“ ein und erklärten die russische Marktwirtschaft für gescheitert. Erst mit dem Machtantritt von Barack Obama verbesserten sich wieder die Beziehungen zwischen Moskau und Washington.

Alexander Rahr ist Leiter des Berthold-Beitz- Zentrums – Kompetenzzentrum für Rußland, Ukraine, Belarus und Zentralasien in der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.  www.dgap.org

Foto: Putin und Chodorkowski im März 2002: Politische Feindschaft

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