© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Zünglein der Waage
Niederlande: Die Mitte-Rechts-Regierung von Mark Rutte ist weiter auf die Unterstützung der calvinistischen SGP angewiesen
Anna Hermans

Nach der Neuwahl der Ersten Kammer (Senat) durch die Provinzparlamente steht die niederländische Minderheitsregierung aus Rechtsliberalen (VVD) und Christdemokraten (CDA) weiter auf wackligen Füßen. In der direkt vom Volk gewählten Zweiten Kammer kann sich Premier Mark Rutte bislang auf die antiislamische Partei für die Freiheit (PVV) von Geert Wilders verlassen. Doch für Gesetze und den Haushalt braucht Rutte die Zustimmung beider Parlamentskammern, ähnlich wie die Bundesregierung für bestimmte Vorhaben das Ja des Bundesrates benötigt.

VVD, CDA und PVV haben weiter keine eigene Mehrheit unter den 75 Senatoren – sie bleiben auf die Unterstützung der streng calvinistischen Kleinpartei SGP angewiesen, die der Regierung zu einem hauchdünnen Vorsprung von einer Stimme verhilft. Die SGP hat sich dabei ganz bewußt selbst in die Rolle des „Züngleins der Waage“ manövriert, indem sie den Stimmenanteil, für den sie selbst keinen zweiten Sitz in der Ersten Kammer mehr beanspruchen konnte, nicht – wie bislang – der ebenfalls sozialkonservativen Christen Unie (CU), sondern der PVV übertragen hat.

Bereits in den vergangenen Monaten hat die Regierungskoalition weitreichende Zugeständnisse an die strenggläubige Partei gemacht. So ist ein Gesetzesvorhaben der VVD, Gotteslästerung nicht länger unter Strafe zu stellen, zurückgenommen worden. Auch das Vorhaben, die sonntäglichen Ladenöffnungszeiten zu liberalisieren, wurde auf Eis gelegt. Wie ernst die SGP selbst die Sonntagsruhe nimmt, belegt die Tatsache, daß sogar die Internetseite der Partei an diesem Tag nicht aufgerufen werden kann, sondern „geschlossen“ ist.

Die SGP ist die älteste im Parlament vertretene Partei der Niederlande. Sie kann seit Jahrzehnten auf eine gleichbleibend treue Wählerschaft (landesweit um die zwei Prozent, in manchen Gemeinden aber bis zu einem Drittel der Stimmen) und etwa 27.000 Mitglieder im „Bibelgürtel“ (von den Provinzen Overijssel bis Zeeland) vertrauen. Gleichzeitig gab es aber Klagen gegen die SGP wegen der Diskriminierung von Frauen. Erst 1989 erklärte die Partei, den Frauen sei fortan freizustellen, ob sie ihre Stimme bei Wahlen abgeben wollten oder nicht; seit 2006 dürfen sie auch Mitglieder der Partei werden.

Fast ritualisiert erschien denn auch der Einspruch des SGP-Abgeordneten Sjaak Simonse vor wenigen Tagen, als eine Frau ins Präsidium der Ersten Kammer gewählt wurde. Es gehe ihm gar nicht darum, die Person an sich abzuqualifizieren, aber sie habe eben das falsche Geschlecht, so der 38jährige Familienvater von zehn Kindern. Die radikale Haltung der SGP gegenüber der weiblichen Beteiligung am öffentlichen Leben macht die Regierung und die PVV ein Stück weit unglaubwürdig. Kritisiert Wilders den Islam nicht auch deshalb, weil die Frauen dort unterdrückt werden und Homosexualität – wie bei der SGP auch – verpönt ist? Kein Wunder also, daß sich die Zeitgeistmedien genüßlich über die SGP-Rolle empören und von „Poldertaliban“ sprechen.

Allerdings: Bis 2010 regierten CDA und Sozialdemokraten (PvdA) – dritter Koalitionär war die CU, die in religiösen Fragen ebenfalls wenig „tolerant“ ist. Doch das hat niemand aufgeregt.

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