© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  23/11 03. Juni 2011

Auf dem Sprung nach Polen
Wehrpflicht: Anfang der achtziger Jahre bei der NVA
Paul Leonhard

Das erste Mal die Nase voll hatte ich, da trug ich noch nicht einmal die Uniform der Nationalen Volksarmee. Der Offizier vom Dienst hatte für unsere Kompanie Nachtruhe bis fünf Uhr angeordnet. Dann sollten wir die Erstausrüstung empfangen, Uniformen, Stiefel, Unterwäsche, Stahlhelm und so weiter. Der Ausbilder hatte sich aber in den Kopf gesetzt, unseren Zug zwischen andere Einheiten zu mogeln. Die Rechnung ging nicht auf. Alle erschienen exakt zum befohlenen Zeitpunkt. Wir standen rum, froren erbärmlich und erhielten erst Punkt fünf Uhr die Ausrüstung, um unausgeschlafen in den ersten Tag zu starten.

Ein halbes Jahr dauerte die Ausbildung in der Unteroffiziersschule in Weißkeißel. Die Kameraden, die ob SED-Mitglied oder nicht alle „Genossen“ genannt wurden, hatten sich aus den unterschiedlichsten Gründen für drei oder zehn Jahre verpflichtet. Meistens hing es mit dem Studium zusammen. Mir ging es um das Stipendium, das ich sonst beim Studium nicht erhalten hätte und eine versprochene Ausbildung als Baggerfahrer. Später als Pionierpanzerkommandant stellte ich fest, daß die Planstelle Baggerfahrer Grundwehrdienstleistenden zustand.

Wie schnell aus Kasernenalltag Ernst werden kann, lernte ich Anfang Dezember 1980 kennen. Es gab Gefechtsalarm. Neben unseren Einheiten fuhren plötzlich offene Schützenpanzerwagen auf. Die sogenannten Eisenschweine waren mit mürrisch dreinschauenden Reservisten besetzt. Ungewohnte Töne dann auf dem Appellplatz. Der Offizier sprach von Polen und nannte deutsche Städtenamen wie Breslau, Oppeln und Danzig. Sprachen nicht so die Ewiggestrigen, die Revanchisten? Die Polen hätten das Vertrauen der sozialistischen Staatengemeinschaft mißbraucht, hieß es. Dort marschiere die Konterrevolution, auch die DDR sei gefährdet. Wir müßten uns bereit halten. Der Kompanie wurde der Weihnachtsurlaub gestrichen, die Stimmung war auf dem Nullpunkt. Man haßte die Polen, die schuld waren, daß man das Weihnachtsfest nicht bei den Familien verbringen würde. Damals malte ich mir aus, was wohl passieren würde, wenn wir einmarschieren würden und aus irgendeinem Haus ein tödlicher Schuß fallen würde. Was würde mit dem Heckenschützen passieren? Seitdem bin ich sehr vorsichtig, wenn über Soldaten geurteilt wird.

Letztlich beruhigte sich die Lage. Der Alarm wurde aufgehoben, die Kompanie bekam ihren Weihnachtsurlaub. Ein halbes Jahr später wurden wir aufgeteilt. Es folgte eine Kommandierung nach Dresden, wo wir Wasserfilterstationen warteten und nach achtstündigem Dienst heim durften. Die Wehrdienstzeit in der NVA war also Glückssache. Man konnte in einer kleinen selbständigen Einheit mit allen möglichen Freiheiten landen oder in einem Mot.-Schützenregiment. Meine Endstation wurde das Panzerregiment 16 in Großenhain. Ich übernahm einen schrottreifen 40 Tonnen schweren Brückenlegepanzer, eine DDR-Entwicklung auf der Basis eines sowjetischen T-55. Die Brückenleger sollten dem Regiment ermöglichen, aus der Bewegung heraus Wasser- und Geländehindernisse zu überwinden. 1982 schafften wir das tatsächlich während einer Übung. Allerdings war der Spitzenpanzer der einzige, der es auf die am Gegensteilhang liegende Brücke schaffte. Dann rutschte er samt Minenräumsektion ab, und die Brücke war im Eimer.

Im Rückblick war die NVA-Zeit für das weitere Leben prägend. Ich lernte die Verlogenheit des SED-Regimes kennen, aber auch, wie man es aushält, auf engstem Raum mit Typen zusammenzusein, mit denen ich im Zivilleben wohl kein Wort gewechselt hätte. Es gab Ex-Knackis, Säufer, Ausreisewillige, überzeugte Genossen, Stasi-Spitzel und echte Bekloppte. Glück hatte, wer schnell lernte, sein Revier abzustecken, einzustecken und auszuteilen. Das Sagen hatten diejenigen, die als nächste entlassen werden würden. Dieser Hierarchie hatte man sich unterzuordnen, und man lernte auch, sie sich zunutze zu machen. Die Kunst bestand darin, so wenig wie möglich erpreßbar zu sein. Wem alles egal war, galt als unberechenbar und wurde in Ruhe gelassen.

Name: Paul Leonhard, Dienstzeit: 11/1980 – 10/1983, Dienstgrad: Feldwebel, Einheit: Panzerregiment 16, Garnison: Großenhain, Leonhard auf seinem Panzer: Revier abgesteckt

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen