© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Der Flaneur
Die Mutter im Zug
Felix Springer

Nach längerer Abwesenheit trägt mich ein klappernder Regionalzug über rostige Schienen zurück nach Hause. In den Zwischentönen des schlingernd schluckenden Getuckers der Maschine offenbaren sich dem wachen Passagier die Symptome der Materialermüdung.

Dem Schaffner, den man heute Zugbegleiter nennt, scheint es ähnlich zu gehen – er spart sich den Kontrollgang und beschränkt seine Tätigkeit darauf, dem Lokomotivenbediener vor der Abfahrt entweder ein rotes oder ein grünes Signal zu geben, je nachdem, ob sich noch ein unachtsamer Mensch hinter der streng gezogenen Linie an der Bahnsteigkante befindet oder nicht.

Das Abteil bietet sechs Sitzplätze, neu, aber bereits farblos gesessen. Mir gegenüber, mit dem Rücken zur Fahrtrichtung, sitzt eine Dame mittleren bis reifen Alters mit einem kleineren Kind. Das Kind heißt Malte. Malte quengelt herum und turnt leicht schnaufend zum Fenster. „Malte, nimmst du bitte mal deine Schuhe von dem Sitz?“ Malte beschäftigt sich ganz angestrengt mit dem Fenstergummi, die liebende Mutter gibt Ruhe und gräbt eine Tupperdose mit Karotten aus.

Der Junge nimmt, ohne vom Fenster wegzutreten, die ihm angebotene Karotte und läßt sie auf den Boden fallen. „Malte, das ist zum Essen, mach das bitte nicht auf den Boden.“ Die Dame hebt die Karotte auf und wirft sie in das Müllfach. Malte legt eine Karotte auf den Sitz und hüpft drauf. „Malte, wann nimmst du denn bitte die Schuhe runter?“ Die Mutter macht ein bißchen sauber und bemerkt meinen vorsichtig fragenden Blick nicht.

Strafe kennt dieses Kind nicht, denke ich und lenke meinen Blick aus dem milchigen Fenster. Am Nebengleis fällt mir auf: Nur ganz oben auf der Schiene, da, wo der Stahl regelmäßig für Abrieb sorgt, ist das Metall blank und rein, nur dort kann sich die Sonne spiegeln.

Versenden
  Ausdrucken Probeabo bestellen