© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  21/11 20. Mai 2011

Den Kontinent retten
Euro und EU-Bürokratie haben der europäischen Idee mehr geschadet als genutzt
Thorsten Hinz

Kein äußerer Feind könnte Europa gründlicher und nachhaltiger demontieren als die  Funktionärs- und Bürokratenkaste, die den falsch konzipierten Euro durchgepeitscht hat und die nun buchstäblich um jeden Preis an ihm festhält. Das Argument, der Dollar sei weit schwächer und die amerikanische Schuldenlast größer als die europäische, verfängt nicht. Amerika gebietet über politische, militärische und kulturelle Instrumente, die seine Dominanz garantieren und es ihm ermöglichen, andere Länder für sein Defizit bluten zu lassen. Europa verfügt weder über den Willen, die Mittel noch die Kraft, sich dagegen zur Wehr zu setzen. Der Euro hat, statt die Kräfte zu bündeln, den Kontinent zum Autismus verurteilt und gelähmt.

Auch politisch ist die Schuldenkrise für Europa folgenreich: Eine regelrechte Demoralisierung hat die Zahlmeister wie die Transfernehmer gleichermaßen erfaßt. Strukturell vollzieht sich die Entmachtung der Nationalstaaten durch eine supranationale Finanzbürokratie. Das Budget-recht ist das Königsrecht des Souveräns. Wo es verlorengeht, sinkt das Parlament zum Selbstverwaltungsorgan von Kolonisierten herab: Es darf über gewisse Modalitäten der Fremdbestimmung befinden, diese aber nicht mehr grundsätzlich in Frage stellen. Der tiefste Instinkt jeder Bürokratie ist ihr Streben nach Selbsterhalt. Dieser Instinkt verweist sie, einer Kompaßnadel gleich, auf das jeweils maßgebliche politische Machtzentrum. Die europäischen Politiker sind außerstande, eine Idee von Europa und seinen Interessen zu liefern. Die Einführung der Währungsunion war eine finanztechnische Operation und kein politischer Gründungsakt. Aus sich heraus konnte die Einheitswährung also keine politische Idee vorgeben. In das Macht- und Orientierungsvakuum, das sich auftat, ist die internationale, vor allem angelsächsische Finanzoligarchie gestoßen, die der EU-Bürokratie die Zielvorgaben liefert: In deren Sinne arbeitet sie nun daran, Europa in die bloße Verwaltungseinheit einer genormten Eine-Welt-Gesellschaft zu verwandeln.

Im Gegenzug werden die Fliehkräfte stärker. Dänemark will seine Grenzen wieder kontrollieren, die finnischen Wähler haben sich zum offenen Protest entschlossen, und die Ungarn – einst neben den Polen das aufmüpfigste Volk im Ostblock – zeigen ihre Unlust, sich ihr Selbstverständnis von Brüssel vorschreiben zu lassen. Der Widerwille, den die Brüsseler Herrschaft bei den Europäern auslöst, wird hier durch die Empfindlichkeit verstärkt, mit der kleine Völker schon den kleinsten Versuch ihrer Fremdbestimmung registrieren. Sensorisch nehmen sie die Europäische Union eher als Gefahr denn als Chance wahr. Dieses Empfinden läßt die EU von innen her zerbröseln, jedes Land geht eigene Wege.

Doch gibt es Notwendigkeiten, die eine intensive innereuropäische Kooperation nahelegen. Der Zuwanderungsdruck aus fremden Kulturkreisen schwillt an, und im Gefolge des globalisierten Wirtschafts- und Finanzwesens werden der konsumierende Einheitsmensch und der flexible Arbeitsnomade, die in durchrationalisierten, vernutzten Landstrichen und Städten ein mechanisiertes Leben fristen, zum Zukunftsmodell. Gegen diese Entwicklung eine europäische Idee zu setzen, die aus der kontinentalen Vielheit schöpft und sie zugleich bündelt, wäre die Aufgabe einer erneuerten Union.

Für den spanischen Philosophen Luiz Diez del Corral – einen geistigen Nachfahre Ortega y Gassets – handelte es sich bei der Verschiedenheit der europäischen Völker „nicht um Gegensätzlichkeiten unterschiedlicher Elemente, sondern es war dasselbe Wesen Europa, das nur in jeder europäischen Nation ein anderes Gesicht zeigte. Es war keine ursprüngliche Identität, die ihr Aussehen veränderte, sondern eine aktive Identifizierung, die sich jede Nation zum Ziel setzte.“ Das heißt auch: Wer die nationale Identität im Namen einer europäischen bestreitet oder auslöschen will, macht sich in Wahrheit zum Aktivisten europäischer Selbstentmachtung und Selbstzerstörung.

Was heißt das für eine neue Europäische Union? Ein Europa, das nach außen endlich handlungsfähig sein will, muß in seinen Ursprüngen und Intentionen ein Europa der Vaterländer, der freien Völker sein. Nur diese sind innerlich frei genug, um die Bedeutung der innereuropäischen Differenzen zu relativieren und anzuerkennen, daß die Feinstrukturen ihrer jeweiligen Nationalstaaten zu schwach sind, um in globalen Interessenkonflikten einzeln zu bestehen. Dazu bedarf es einer überwölbenden, europäischen Struktur, die klare politische und geistig-kulturelle Vorgaben verinnerlicht hat und in der die Bürokratie auf ihre dienende Funktion zurückgestutzt ist.

Die aktuelle EU will aus den Europäern markt- und globalisierungskompatible sowie unbegrenzt aufnahmebereite Einheitsmenschen formen. Nur unter dieser quasi-totalitären Voraussetzung ist es möglich, einen EU-Beitritt der Türkei, die sich niemals aktiv mit Europa identifiziert hat, auch nur theoretisch für möglich zu halten. Die relative Homogenität des Kontinents wäre damit endgültig gesprengt, seine Zerstrittenheit und Unfähigkeit zum Handeln auf Dauer gestellt.

Die Widerstände gegen dieses verratene Europa entladen sich allzu oft in die falsche Richtung. Europäische Einzelstaaten neigen dazu, sich mit außereuropäischen Mächten gegen ihre Nachbarn zu verbünden. Dadurch wird Europa zusätzlich geschwächt und die Axt an die Grundlage auch des nationalen Selbsterhalts gelegt. Die wichtigste Aufgabe einer reformierten Union bestünde darin, die sensible und zugleich dynamische Einheit aus nationaler und kontinentaler Identität, welche den Namen Europas trägt, zu schützen, zu fördern und gegen äußere Begehrlichkeiten zu verteidigen. Wer den Nationalstaat bis auf weiteres für unverzichtbar hält, muß sich um die Zukunft Europas um so intensiver Gedanken machen.

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