© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  20/11 13. Mai 2011

Den Kernbestand sichern
Zweierlei Wurzeln: Im postliberalen Zeitalter geht es nicht um eine Wiederbelebung des Liberalismus
Karlheinz Weissmann

Im Fall des Liberalismus kommt das landläufige Verständnis dem tatsächlichen Bedeutungsgehalt sehr nah. Die Liberalen gelten als „Freiheitspartei“. Welcher Art die von ihnen geforderte Freiheit ist, steht dahin, aber die meisten würden sie wohl – ganz im Sinne des Liberalen Friedrich August von Hayek – als „Abwesenheit von Zwang“ definieren. Diese Sicherheit in der Auffassung des Liberalismus hat mit dessen außerordentlichem historischem Erfolg zu tun, aber auch damit, daß sein Kernprogramm dem modernen Menschen unmittelbar einleuchtet.

Schon am Ende des 19. Jahrhunderts – als die „Religion der Freiheit“ (Benedetto Croce) den Höhepunkt ihres Einflusses erreichte – wurde im deutschen Sprachraum „liberal“ als Synonym für „frei“, „illiberal“ als Synonym für „unfrei“ benutzt. Selbstbestimmung und Sklaverei, so die Vorstellung, standen sich seit je in Polarität gegenüber, und die Moderne sollte endlich den Sieg der Freiheit bringen.

Zu dem Zeitpunkt mehrte sich aber die Zahl der Ketzer, die den allgemeinen Glauben an die Wohltat der Freiheit nicht mehr teilte. Die Skeptiker, wenn nicht Verächter des Liberalismus hatten zum einen ästhetische Gründe, zum anderen politische. Auch wenn die Bedeutung und das relative Recht eines Widerwillens gegenüber massenhafter freier Entfaltung unbestritten ist, sind doch die politischen Einwände ernster zu nehmen.

Denn der neue Antiliberalismus wiederholte nicht einfach frühere Einwände – die auf die als natürlich betrachtete Bindung des einzelnen an Herkunft und Stand oder auf seine sündhafte Grundverfassung abgehoben hatten, die durch Zwang korrigiert werden muß –, sondern brachte in Anschlag, daß die Denkvoraussetzungen des Liberalismus falsch seien. Eine fundamentale Kritik der Anthropologie wie der Gesellschaftslehre der Aufklärung, die die Basis des Liberalismus bildeten, hatten zu dieser Erkenntnis geführt.

Die Erfahrung des revolutionären Zeitalters nährte jedenfalls bei Denkern wie Gaetano Mosca, Max Weber, Walther Rathenau, Vilfredo Pareto und anderen, die ursprünglich selbst aus dem Lager des Liberalismus kamen, Zweifel, nicht nur an der Güte des Menschen und seiner prinzipiellen Vernünftigkeit, die Erkenntnis der Wissenschaft förderte außerdem zutage, daß es keine paradiesischen vorstaatlichen Urzustände gegeben hatte, und die moderne Industriegesellschaft entfernte sich für jeden sichtbar in hohem Tempo vom Ideal einer harmonischen und mittelständischen Ordnung, wie sie dem Liberalismus als Ziel vorschwebte.

Der berühmte britische Rechtshistoriker Walter Bagehot (1826–1877) zog damals die Bilanz, Liberalismus funktioniere, wenn überhaupt, dann nur unter Inkaufnahme dreier Bedingungen, die ihm nicht genehm sein konnten: einer aus der Tradition herkommenden Stabilität und Differenzierung der sozialen Ordnung, dem Konsens über alle Fragen, die der Diskussion entzogen bleiben müssen, und der Bereitschaft der Mehrheit, sich von einer qualifizierten Minderheit in entscheidenden Fragen bestimmen zu lassen, insofern auf ihre Freiheit zu verzichten.

Eigentlich war die Einschätzung Bagehots nicht ganz neu, sondern entsprach in vielem den Auffassungen der englischen und nordamerikanischen Whigs, aber auch der Alt- oder Historisch-Liberalen in Deutschland. Ihr Freiheitswille hatte sich ursprünglich aus dem Widerstand gegen das absolutistische Regime gespeist und dabei auf die Rechte Bezug genommen, die den Korporationen und Bürgerschaften seit je zustanden.

Man könnte mit einem gewissen Recht von der „germanischen“ Schule des Liberalismus sprechen, deren Verteidigung konkreter und geschichtlich gewachsener Freiheiten (Plural!) sich deutlich unterschied von den Doktrinären oder Radikalen, die im Gefolge der Französischen Revolution zuerst in den romanischen Ländern Einfluß gewannen und von einer abstrakten und prinzipiellen Freiheit (Singular!) ausgingen, die sie mit anderen „natürlichen“ Rechten koppelten und utopisch ausrichteten.

Diese Variante des Liberalismus erwies sich rasch als die erfolgreichere, da ihre Forderungen simpel und besser demagogisch nutzbar waren. Allerdings hatte man für den Erfolg einen hohen Preis zu entrichten. Der doktrinäre Liberalismus sah sich immer gezwungen, Bündnisse mit verschiedenen anderen Bewegungen – vor allem Sozialismus und Nationalismus – einzugehen, die ihn nötigten, Abstriche von der Kernforderung nach Freiheit zu machen, um seine populäre Wirksamkeit zu erhalten. Die Wirklichkeit des „postliberalen“ (Panajotis Kondylis) Zeitalters zeichnete sich sehr früh ab.

Man kann die Folgen der Entwicklung bis heute an der inneren Widersprüchlichkeit liberaler Programmatik ablesen: angefangen bei der Bereitschaft, die Meinungsfreiheit einzuschränken, wenn das den Beifall der eigenen Claque sichert, über die Unbekümmertheit, mit der wirtschaftliche Klientelpolitik betrieben wird, bis hin zu der Entschlossenheit, Bündnisse mit der Bürokratie zu schließen und den Kampf gegen die Restbestände von Tradition voranzutreiben, bei offensichtlicher Blindheit gegenüber den Gefahren des Nihilismus.

Einen Ausweg aus diesem Dilemma gibt es nicht. Der Verweis auf die beiden Wurzeln des liberalen Denkens darf nicht dahingehend mißverstanden werden, als ob es hier um ein Plädoyer geht, die alt- oder historisch-liberale Tradition wiederzubeleben. Dafür existiert kein Ansatzpunkt mehr. Die Voraussetzungen sind abgeräumt, die Trägerschichten verschwunden. Wenn, dann geht es darum, sich gegenüber einer entleerten Freiheitsrhetorik wie gegenüber den Zumutungen des neuen Leviathan auf etwas zu besinnen, was überhaupt jenseits der Entgegensetzung liberal-antiliberal liegt, weil es sich um einen Kernbestand handelt, der tief verankert ist in der europäischen Überlieferung und sich insofern auch bei denen findet, bei denen man ihn zuletzt vermuten würde. „Die Freiheit ist das Recht, anders zu sein ...“ (Nicolás Gómez Dávila)

Foto: Wandlungsfähiger Liberalismus: Den einen geht es um die Verteidigung konkreter und geschichtlich gewachsener Freiheiten, den anderen um eine abstrakte und prinzipielle Freiheit

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