© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Selbstaufgabe als Lebenssinn
Hörbuch: Tolstois Novelle „Kosaken“
Harald Harzheim

Daß der russische Stadtmensch des 19. Jahrhunderts unser mentaler Zeitgenosse ist, davon geben Dostojewskis Werke reichlich Zeugnis. Spekulationen, daß in der Zermürbung seiner Protagonisten mehr Autorenpsyche als russsischer Zeitgeist dokumentiert sei, finden in Tolstois autobiographischer „Kosaken“-Novelle (1863) ihr Dementi.

Auch Tolstoi, der Generation Dostojewskis angehörig, antizipiert Wort für Wort den Seelenhorror unserer Gegenwart. Der Held seiner „Kosaken“-Erzählung, Dimitri Olenin, ausgebrannt und verschuldet, steht bereits in jungen Jahren vor dem Scherbenhaufen seiner Existenz. Also verläßt er die Moskauer Salons, will bei kaukasischen Kosaken Karriere machen. Die stehen in ständigem Konflikt mit den benachbarten Tschetschenen. Olenin erlebt einen Kulturschock: Besäufnisse, Jagd, Lärm, all das steht konträr zu seiner Herkunft. Aber unter dieser Wildheit lauert heimliche Angst in der Kosakenstadt, projiziert auf die Tschetschenen jenseits des Terek-Flusses.

Eines Nachts geschieht es: Bei heimlicher Überquerung des Flusses wird ein Tschetschene von dem jungen Kosaken Lukaschka erschossen. Sofort streiten dessen Kameraden um die Habe des Toten. Das Opfer selbst liegt ausgestreckt am Ufer, wie ein Gekreuzigter. „Auch der war ein Mensch“, muß Lukaschka erkennen, während ein Engel über ihm schwebt: Das existentielle Desaster wird für eine Sekunde vom Metaphysischen, Ewigen durchbrochen. Eine Andeutung „übernatürlicher Gnade“, die dennoch keine Rettung spendet. Vielleicht, weil Verzweiflung zur Grundausstattung menschlichen Daseins gehört.

Wie mancher Dostojewski-Held flüchtet Olenin in die Ideologie, er wendet sich der jungen Marjanka zu, phantasiert von Liebe und Selbstaufgabe als Lebenssinn. Unnötig zu erwähnen, daß er scheitert. Der Tolstoi-Verehrer Rilke sagte: „Du mußt dein Leben ändern.“ Nach der „Kosaken“-Novelle möchte man entgegnen: Wozu denn noch?

Der Sprecher André Beyer, Theater- und Fernsehdarsteller („Tatort“) stemmte „Die Kosaken“ ohne musikalische Unterstützung. In sechs Stunden, also in voller Länge, verlieh er dem Text neues Leben. Die junge Edition Apollon hat damit erneut einen Treffer gelandet.

Leo N. Tolstoi:  Die Kosaken. Ungekürzt gelesen von André Beyer, bebildertes Beiheft, 21,99 Euro www.edition-apollon.com

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