© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Lockerungsübungen
Eine neue Ära der Migration
Karl Heinzen

Für Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Ungarn, Polen, die Slowakei und die Tschechische Republik ist die Zeit, in der sie sich als EU-Partner zweiter Klasse fühlen mußten, seit dem 1. Mai endlich vorbei. Die letzten Schranken, die ihren Bürgern den Zugang zu unserem Arbeitsmarkt verwehrten, sind gefallen, ein neues Kapitel in der Erfolgsgeschichte der Migration kann aufgeschlagen werden. Die Bundesagentur für Arbeit rechnet mit einer Nettozuwanderung von 140.000 Osteuropäern pro Jahr, manche Forschungsinstitute setzen diese Zahl etwas niedriger, manche auch etwas höher an.

Zu begrüßen sind die neue Rechtslage und ihre sich abzeichnenden Folgen gleich in dreierlei Hinsicht. Zum einen ist den universalen Grundwerten unserer Zivilisation Rechnung getragen, zu deren Säulen die individuelle Freizügigkeit gehört. Die Europäer sind heute eifrig dabei, militärische Mittel zum Einsatz zu bringen, wenn sie in anderen Weltregionen Verstöße gegen ihre Prinzipien vermuten müssen. Da ist es nur recht und billig, daß diese auch auf dem eigenen Kontinent ohne Einschränkungen beherzigt werden.

Zum anderen setzt die Öffnung der Arbeitsmärkte in den „alten“ Mitgliedstaaten der EU ein Signal gegen die Integrationsmüdigkeit, die sich in vielen von ihnen breit- gemacht hat. Auch in Deutschland mehren sich die Stimmen, die nach dem Staat rufen, um der Einwanderungsströme Herr zu werden, manche von ihnen malen das Gespenst einer Islamisierung an die Wand. Dieses Scheinargument können sie nun nicht bemühen, da die Osteuropäer ohne Frage zu unserem „Kulturkreis“ zählen. Ihr Recht, zu uns zu kommen, wird ihnen durch die EU garantiert. Da die Bürger erfahrungsgemäß hinnehmen, was ihnen als Schicksal erscheint, dürfte die Debatte um Migration und Integration also eher abflachen als hochkochen, obwohl die Zuwanderung einen neuen Schub erfährt.

Schließlich entspricht die neue Freizügigkeit auch den Gesetzen der marktwirtschaftlichen Vernunft. Die Ressource Arbeit muß sich ungehindert dorthin bewegen können, wo sie am besten eingesetzt werden kann. Wenn die Löhne und Gehälter nicht uferlos steigen sollen, muß den Arbeitgebern das glaubwürdige Druckmittel zur Verfügung stehen, bei Bedarf im Ausland Beschäftigte anzuwerben, die für weniger Geld mehr arbeiten.

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