© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Bundeswehr-Rallye mit Totalschaden
Wehrdienst: Pflichterfüllung bei der ABC-Abwehrtruppe im brandenburgischen Prenzlau / JF-Serie, Teil 3
Ronald Gläser

Erst nachdem ich mich beim Kreiswehrersatzamt beschwert hatte, wurde meine Zurückstellung aufgehoben und mir ein Tauglichkeitsgrad zugeteilt. Daraufhin erhielt ich die Einberufung zur ABC-Abwehr nach Prenzlau. Das war im Sommer 1993, gleich nach dem Abitur, und ich war tatsächlich voll überschwenglicher Freude: Ich gehe zur Bundeswehr.

Vor meinem ersten Tag in Uniform habe ich sogar überlegt, mich während des Dienstes weiterzuverpflichten. Gleich zu Beginn meiner Wehrdienstzeit wurden wir jungen Rekruten dann auch noch gefragt, ob wir uns – ganz unverbindlich – vorstellen könnten, am ersten Auslandseinsatz der Truppe teilzunehmen: in Somalia. Neben meinem Kameraden Christian hob ich als einziger in meinem Zug zaghaft die Hand. Und das, obwohl meine Begeisterung schon erheblich gesunken war.

Mein Jahrgang gehörte zu den ersten in West-Berlin, die einberufen wurden. Vielen Bundeswehroffizieren war es ein besonderes Vergnügen, die „Bundeswehrflüchtlinge“ mal richtig an die Kandare nehmen zu können. Dabei hatten sie die Falschen erwischt: Wer nicht gehen wollte, verweigerte oder zog die Krankenkarte. So taten es die meisten meines Abiturjahrgangs. Wer in den neunziger Jahren noch zur Bundeswehr ging, war in der Regel weder ein Bundeswehrflüchtling noch ein Abkömmling von ihnen.

So kam ich in eine alte, halbwegs sanierte NVA-Kaserne mit einer einzigen Dusche für die ganze Kompanie. Die Bundeswehr ist wie jede Armee. Da zählt erst einmal Gehorsam, Pflichterfüllung, Strammstehen. Das ist in Ordnung so. Anders kann eine Armee nicht geführt werden, außer sie will daherkommen wie ein aufgebrachter Hühnerhaufen oder libysche Freiheitskämpfer.

Mein Bedürfnis nach militärischem Drill war aber recht schnell gestillt. Mein Unteroffizier hatte mich vom ersten Tag an auf dem Kieker. Warum, habe ich nie begriffen. Wahrscheinlich war es so eine West-Berliner-Geschichte. Einmal stand er hinter mir, als wir – auf dem Boden liegend – ein Maschinengewehr auseinanderzunehmen und wieder zusammenzubauen hatten. „Der Gläser schafft das doch sowieso nicht“, flüsterte er seinen Unteroffizierskollegen zu – und zwar absichtlich so laut, daß ich es hören mußte. Um so mehr hat mich sein dummer Gesichtsausdruck erfreut, als ich die Waffe zerlegt und zusammengebaut hatte.

Einmal mußte ich in voller ABC-Montur bei großer Hitze mehrfach um den Platz rennen. Wieder zusammen mit mir: Christian, der auch nach Somalia wollte (er wegen des Geldes, ich wegen des Abenteuers). Weil Christian Kettenraucher war, habe ich etwas besser beim Strafexerzieren abgeschnitten. Und auch den obligatorischen 20-Kilometer-Marsch habe ich heil überstanden. Wir hatten einen baumlangen, kräftigen Kerl dabei, der leider das MG tragen mußte. Er brach während der letzten Kilometer in Tränen aus, so fertig war er. Wir waren alle wie gerädert. Großen Spaß habe ich dabei nicht empfunden. Es war eben Pflichterfüllung.

Natürlich sind diese Übungen während der Grundausbildung notwendig. Eine Armee läßt sich nicht aus Waschlappen formen. Und heute, wo die vage Möglichkeit auf einen Krieg gegen „die Russen“ und die NVA realen Kampfeinsätzen wie in Afghanistan gewichen ist, ist eine solide Ausbildung wichtiger denn je. Trotzdem war ich damals nicht unglücklich, als es bei mir nach nur fünf Monaten vorzeitig hieß: Sie sind aus der Bundeswehr entlassen.

Die Kameraden in meinem Zug waren alle in Ordnung. Nach Dienstschluß haben wir manchmal ein Bier getrunken, Musik gehört, Spiele gespielt. Und Freitag mittag ging es nach Hause. Zur Bundeswehr-Rallye, wie das genannt wurde. Wenn alle in ihre Autos stiegen und nach Hause fuhren, meistens nach Berlin. Einmal ist mir auf dem Rückweg bei Tempo 140 auf der Autobahn ein Reifen geplatzt. Der Wagen kam von der Straße ab. Ich donnerte gegen einen Baum im Wald von Brandenburg. Das war das Gefährlichste, was einem nach Lage der Dinge damals bei der Bundeswehr passieren konnte. Das Auto meiner Mutter war ein Totalschaden. Aber ich war unverletzt. Zum Glück.

Name: Ronald Gläser

Dienstzeit: 07/1993 – 11/1993

Dienstgrad: Schütze

Einheit: ABC-Abwehrtruppe

Garnison: Prenzlau

Foto: Ronald Gläser: Entlassung nach fünf Monaten

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