© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  19/11 06. Mai 2011

Auf der Suche nach dem Gleichgewicht
Negatives Stimmgewicht: Die Parteien tun sich mit der vom Verfassungsgericht geforderten Reform des Wahlrechts schwer
Gerhard Vierfuss

Wieder einmal droht eine dem Gesetzgeber vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist zu verstreichen, ohne daß dieser den großzügig bemessenen Zeitraum für eine Neuregelung genutzt hätte. Bis zum 30. Juni muß der Bundestag das Wahlrecht so reformieren, daß es nicht mehr zu einem sogenannten negativen Stimmgewicht kommen kann. Doch es ist völlig unklar, wie das Parlament diesem Auftrag nachkommen will. Einzig die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat bis jetzt einen Gesetzentwurf vorgelegt.

Worum genau geht es? Das negative Stimmgewicht ist ein unerwünschtes Phänomen, das aus dem Zusammenwirken mehrerer Prinzipien resultiert, die dem Bundestagswahlrecht zugrunde liegen: der Prinzipien der Persönlichkeitswahl (über die Erststimme) und der Verhältniswahl (durch die Zweitstimme) und des Grundsatzes der Mandatsverteilung über Landeslisten (als Ausprägung des föderalen Systems). Die ersten beiden Prinzipien führen dazu, daß es häufig zu Überhangmandaten kommt: Eine Partei erhält mehr Direktmandate, als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen. Das ist zwar, gemessen an dem Grundsatz der Verhältniswahl, eine Verzerrung des Ergebnisses, jedoch verfassungsrechtlich unbedenklich.

In Verbindung mit dem dritten Prinzip, der Sitzzuteilung nach Landeslisten, kann es nun dazu kommen, daß Wählerstimmen sich gegen die Partei auswirken, für die sie abgegeben werden, oder umgekehrt, daß es einer Partei nutzt, wenn sie nicht gewählt wird. In den Fokus geriet dieses Phänomen bei der Bundestagswahl 2005, weil es dort zum ersten Mal manipulativ eingesetzt wurde. Im Wahlkreis Dresden 1 mußte die Wahl um zwei Wochen verschoben werden, weil kurz vor dem Termin die NPD-Kandidatin gestorben war. Durch die Kenntnis der Ergebnisse im übrigen Bundesgebiet war die CDU als im Wahlkreis aussichtsreichste Partei in die Lage versetzt, genau auszurechnen, welches Ergebnis sich für sie wie auswirken würde. Die CDU hatte bereits drei Überhangmandate in Sachsen;  ein hohes Zweitstimmenergebnis konnte sich also nicht in einem Mandatsgewinn niederschlagen. Im Gegenteil: Es hätte dazu geführt, daß ein Mandat von der nordrhein-westfälischen auf die sächsische Liste verschoben worden wäre. Während jedoch der sächsische Verband davon wegen der Überhangmandate nicht profitiert hätte, wäre auf den nordrhein-westfälischen ein Mandat weniger entfallen. Im Ergebnis hätte die CDU also ein Mandat verloren. Darauf richtete sie ihren Wahlkampf aus und hatte damit Erfolg: Mit einem hohen Erststimmenanteil gewann sie den Wahlkreis; ihr Zweitstimmenanteil war hingegen so gering, daß es nicht zu einer Verschiebung innerhalb der Landeslisten kam.

Wie ist Abhilfe möglich? Da das negative Stimmgewicht durch das Zusammenwirken der drei genannten Prinzipien zustande kommt, ist zu seiner Vermeidung die Aufgabe oder zumindest die Einschränkung mindestens eines von ihnen notwendig. Die Grünen nehmen das erste und das dritte ins Visier. Ihr Gesetzentwurf zielt darauf ab, Überhangmandate vollständig auszuschließen. Zu diesem Zweck sollen Direktmandate nicht mehr, wie bisher, innerhalb der Landeslisten, sondern auf Bundesebene verrechnet werden. Soweit trotzdem noch überzählige Direktmandate verbleiben – insbesondere für die CSU, auf die als Regionalpartei diese Änderung keine Auswirkung hätte –,  sollen diese ersatzlos wegfallen.

Selbst ohne diesen zuletzt genannten rigiden Eingriff in das Prinzip der Persönlichkeitswahl, der für die Effektivität des Vorschlags zur Vermeidung des negativen Stimmgewichts gar nicht erforderlich ist, bliebe als Preis hierfür eine massive Einschränkung zwar nicht des formalen Prinzips der Sitzverteilung über Landeslisten, aber des dahinterstehenden materiellen Grundsatzes der proportionalen Länderrepräsentanz. Denn zum Ausgleich für überzählige Direktmandate in einem Bundesland würden eben Listenplätze in anderen Ländern herangezogen. Die Folge könnte eine weitere Entfremdung zwischen Bürger und Politik sein.

Union und FDP glauben bis jetzt, diesen oder einen ähnlich schwerwiegenden Eingriff in geltende Wahlrechtsgrundsätze vermeiden zu können. Offenbar favorisieren sie einen Vorschlag, der mit einer minimalen Änderung auskommt: Statt wie bisher die Mandate zunächst nach dem Stimmenanteil auf die Parteien zu verteilen und diese anschließend den Ausgleich über die Landeslisten vornehmen zu lassen, sollen zukünftig als erstes die Bundesländer entsprechend der jeweiligen Zahl der Wähler ihr Kontingent an Mandaten erhalten, bevor diese dann in einem zweiten Schritt auf die Parteien verteilt werden. Auf diese Weise werde die Verbindung der Landeslisten aufgehoben und damit das Problem des negativen Stimmgewichts beseitigt.

Dieser Vorschlag führt indes nicht zum Ziel, da er die Möglichkeit des negativen Stimmgewichts infolge von Überhangmandaten nicht beseitigt und noch zusätzlich zu einer Variante ohne Überhangmandate führt. Es bleibt also dabei: Ohne tiefe Eingriffe in das Wahlrecht wird das Problem des negativen Stimmgewichts nicht zu lösen sein.

Foto: Nicht jede Stimme hat das gleiche Gewicht: Frist des Verfassungsgerichts droht zu verstreichen

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