© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Wir leben von den Ersparnissen der Erde
Der Nanophysiker Gerd Ganteför zu Bevölkerungswachstum, Klimawandel und Energiewende
Peter Schuster

Wäre die Aufmerksamkeit im Bücherherbst 2010 nicht von Thilo Sarrazin absorbiert worden, hätte Gerd Ganteförs Kritik an den Propheten der „Klimakatastrophe“ durchaus für Furore sorgen können. Allein der provozierende Titel „Der Weltuntergang findet nicht statt“ versprach eine höhere Auflage. Da diese Resonanz ausblieb, legt der Autor nun im SPD-Theorieorgan Internationale Politik und Gesellschaft (1/11) mit einer an Zuspitzungen nicht geizenden Studie über „Bevölkerungswachstum und Klimawandel“ nach.

Daß er dazu berufen ist, überrascht, denn Ganteför ist weder Klimatologe noch Demograph, sondern Physikprofessor an der Universität Konstanz. Sein Forschungsschwerpunkt sind Nanostrukturen und Cluster, die Geheimnisse der Materie bergen, in die nicht einmal das Elektronenmikroskop vordringt. Trotzdem zweifelte bisher niemand daran, daß der Spezialist für Mikrowelten nicht kompetent sei, um auch die großen Zukunftsfragen der Menschheit zu erörtern. Ein Vertrauensbonus, den auch seine jüngste Einlassung rechtfertigt, die für gravierende Umgruppierungen auf der ökopolitischen Agenda eintritt. Die Hauptthese ist simpel: Nicht der Klimawandel, sondern die rasante Bevölkerungszunahme in Asien und Afrika sollten uns Sorgen machen. Die Erde ist für maximal fünf Milliarden Menschen ausgelegt. Allein an der Nahrungsmittelproduktion orientierte Berechnungen, die ihre Tragfähigkeit erst bei 35 Milliarden erschöpft sahen, dürften heute obsolet sein. Es sei denn, man akzeptierte weltweit eine Bevölkerungsdichte wie in Japan.

Wenn aber die Fünf-Milliarden Grenze, die eine WWF-Studie 2008 als Voraussetzung für langfristig humane Verhältnisse nannte, mit 6,9 Milliarden längst überschritten ist, dann leben wir von den „Ersparnissen der Erde“. Zwangsläufig münde dieser demographische Prozeß im Kampf ums nackte Überleben. Dem ist auch dann nicht auszuweichen, wenn man Ganteförs „gute Nachricht“ ins Szenario einspeist, der zufolge die Weltbevölkerung nicht mehr exponentiell, sondern nur noch linear wächst. Aber trotz global sinkender Geburtenraten schreit alle zwölf Jahre eine neue Milliarde Erdenbürger nach Versorgung – das sei zuviel.

Mühelos schlägt Ganteför von solchen Horrorstatistiken die Brücke zum Klimawandel. Ein Drittel der Weltbevölkerung lebe in bitterer Armut. Das sind 2,3 Milliarden Menschen in 59 Ländern, zu denen auch Indien, das Opec-Mitglied Nigeria oder der mit Bodenschätzen gesegnete Kongo (Zaïre) gehören. Das Jahreseinkommen dort liegt bei 1.000 Euro pro Kopf. Zugleich weisen diese Staaten mit drei bis vier Kindern pro Frau höchste Geburtenziffern auf. Zwischen niedrigem Bruttosozialprodukt und hoher Geburtenrate gebe es einen offenkundigen Zusammenhang.

Genauso evident sei der zwischen Armut und Energieverbrauch. In Armutszonen baue man Häuser mit schlechter Wärmeisolierung. Niedrigenergiehäuser könne man in Kirgisistan nicht bezahlen. Und die Energieeffizienz nehme nicht zu, wenn Entwicklungsländer ihren Lebensstandard anheben. Mit dem Wirtschaftswachstum steigt der Energieverbrauch: „Arme Länder können sich teure Energie nicht leisten.“ Darum setzen Indien oder Pakistan auf die billigen Energieträger Kohle und Erdöl, Erdgas und Atomstrom. Wind- und Sonnenenergie sind ihnen zu teuer.

Eine in Kohle- oder Kernkraftwerken erzeugte Kilowattstunde kostet derzeit vier Cent. Offshore-Windparks liefern für 15, Photovoltaik-Anlagen gar für 35 Cent. Folglich steige die Nachfrage nach Kohle, Gas und Uran unentwegt an. In China geht seit 2007 alle drei Tage ein neues Kohlekraftwerk ans Netz, und das Reich der Mitte plane „den Bau ganzer Flotten von Kernkraftwerken“. Ganteför bestreitet nicht die daraus resultierenden ökologischen Probleme. Er hält die Prognose des Weltklimarates sogar für durchaus zutreffend, daß viele Küstenregionen infolge zivilisatorisch induzierter Erderwärmung in 200 Jahren im Meer versunken sein dürften. Doch meint er, diese Bedrohung lasse sich technisch meistern: durch höhere Deiche, nicht nur in den Niederlanden.

Aber selbst wenn Bangladesch ohne Deiche bleibe und 20 Prozent seiner Fläche ans Meer verliere, ende es nicht „in Verzweiflung und Chaos“, die naturnotwendig ins Haus stünden, wenn seine Einwohnerzahl von 150 Millionen innerhalb von hundert Jahren auf eine Milliarde anstiege. Dann falle der Flächenverlust zehnmal so hoch aus wie das Landopfer ans Meer. Ganteför macht alte Warnungen vor dem demographischen Supergau, formuliert von Herbert Gruhl oder dem Club of Rome („Die Grenzen des Wachstums“ 1972) für die Gegenwart fruchtbar. „Übersteigerte Angst“ vor dem Klimawandel dürfe nicht zu politisch falschen, die nahende Bevölkerungskatastrophe verkennenden Entscheidungen verleiten. So spreche zwar nichts gegen die Hinwendung zu regenerativen Energien, obwohl die deutsche CO2-Reduktion „keine Auswirkung auf die globale Kohlendioxidbilanz hat“. Hier steht Deutschland wirklich „allein da“, wie der US-Umweltaktivist Stewart Brand in der FAZ warnte. Eine weniger panische Energiepolitik würde den Export von Kohlekraftwerken mit hohem Wirkungsgrad oder von sicherer Kernkrafttechnologie in unterentwickelte Weltregionen forcieren.

Forderungen, mit denen Ganteför derzeit die Allparteienkoalition deutscher Weltretter provoziert. Die verspricht sich alles Heil vom Ausstieg aus der „atomar-fossilistischen Zivilisation“ (Alternativ-Nobelpreisträger Hermann Scheer), verlangt von der Bundesregierung, Exportbürgschaften und Kreditgarantien für Atomtechnologie zu streichen und ihre Ausstiegsstrategie auch international durchzufechten, denn am grünen deutschen Wesen soll die Welt genesen (so der Bremische Umweltsenator Reinhard Loske in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 4/11).

Foto: Mülldeponie im indischen Kalkutta: Trotz sinkender Geburtenraten schreit alle zwölf Jahre eine neue Milliarde Erdenbürger nach Versorgung

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