© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Die Meere preisgegeben
Erst Napoleons Kontinentalsystem begründete vor 200 Jahren Großbritanniens Weltmachtstellung im 19. Jahrhundert
Dirk Wolfsimon

Im Jahr 1805 hatte die französische Flotte in der Schlacht von Trafalgar eine empfindliche Niederlage erlitten. Die Folgen waren gravierend. Die Briten konnten aufgrund ihrer erstarkten Seemacht ihren Machtbereich in Übersee erweitern, und für Frankreich gab es infolge der Verluste an maritimen Ressourcen keine Möglichkeit mehr, mit seinen Linienschiffen die Entscheidung gegen Großbritannien zu suchen. Auch der französische Überseehandel war zum Erliegen gekommen, während dem britischen Handel fortan keine Schranken gesetzt waren. Aber schon bald zeigten sich für die Briten neue Gefahren. Parallel zur Modernisierung und Erweiterung der Flotte führte Napoleon Ende 1806 Maßnahmen ein, die für Großbritannien weitaus gefährlicher werden sollten als die Landungsversuche und der permanente Kaperkrieg gegen englische Handelsschiffe: „Le système continental“, in Deutschland oft irreführend „Kontinentalsperre“ genannt.

Mit dem Dekret vom 21. Dezember 1806 war für die Verbündeten Großbritanniens und auch für neutrale Staaten der Handel mit den britischen Inseln, seinen Kolonien und britischen Waren per se untersagt.  In Whitehall ließ man sich hierdurch jedoch nicht einschüchtern, sondern übte Vergeltung mit einem Kabinettsbefehl, der für die neutrale Schiffahrt wiederum den Handel mit allen französischen Häfen verbot. Gleichzeitig unterstützten die Briten offen das Schmuggeln ihrer Erzeugnisse nach dem Festland, um so die französischen Absichten gegen den britischen Handel zunichte zu machen.

In diesem Wirtschaftskrieg kämpften beide Kontrahenten mit harten Bandagen. Die Unangreifbarkeit der britischen Seemacht zwang Napoleon, mittels seiner militärischen Überlegenheit zunächst auf dem Festland den Einflußbereich des Kontinentalsystems zu vergrößern.

So zwang er Preußen zum Anschluß an das Kontinentalsystem und verständigte sich mit Rußland zum Vorgehen gegen die drei einzigen noch neutralen Staaten Europas – Dänemark, Schweden und Portugal. Die Briten sahen sich herausgefordert und requirierten die dänische Flotte, nachdem sie vom 2. bis 5. September 1807 Kopenhagen in Brand geschossen hatten und fast dreißig Prozent der Stadt zerstörten. En passant wurde die Insel Helgoland annektiert und fortan als Drehscheibe für den britischen Schmuggelbetrieb ausgebaut.

Auch Frankreich blieb nicht untätig. Mit dem Einmarsch in Portugal im Oktober 1807 wurde das traditionell anglophile Land in das Kontinentalsystem gezwungen. Trotz britischer Unterstützung war auch der erzwungene Anschluß Schwedens an das Kontinentalsystem nicht zu verhindern. 1809 trat Schweden der Koalition der Festlandmächte bei und erklärte Großbritannien im folgenden Jahr sogar den Krieg.

So war das Kontinentalsystem nahezu perfekt, und Napoleon schien den Sieg schon sicher in der Tasche zu haben. Doch militärisch konnte keiner der beiden Antagonisten den Krieg gewinnen, da Großbritannien über keine Armee gegen Frankreich und Frankreich über keine Kriegsflotte zur Eroberung der Britischen Inseln verfügte. Stattdessen wurde der Kampf der beiden Mächte auf dem Rücken des Handels ausgefochten. Für die neutralen Staaten bedeutete die Situation, daß sie sich quasi zwischen Hammer und Amboß befanden.

Die Konsequenzen waren verheerend: Infolge der Beschlagnahme von Milliardenwerten an Waren machte sich auf dem Kontinent ein starker Mangel an Kolonialwaren bemerkbar, wogegen auf den Britischen Inseln Agrarprodukte vom Kontinent knapp wurden. Um die aufgestaute Kolonialwarenschwemme nicht zu groß werden zu lassen, gab die britische Regierung gegen hohe Prämien Lizenzen für den Seehandel mit Frankreich aus.

In Ermangelung der Kolonialwaren beging Napoleon jetzt den entscheidenden Fehler und kopierte das Lizenzsystem im Interesse der eigenen Wirtschaft. Für Großbritannien, das nicht in der Lage war, seinen Getreidebedarf selbst zu decken, war dies ein Glücksfall, konnte es doch nunmehr auf Getreideimporte aus den Randländern der Ostsee zurückgreifen. Ohne die französischen Lizenzen wäre Großbritannien infolge sozialer Unruhen wahrscheinlich zum Frieden gezwungen worden, doch so rettete Napoleon in höchster Not seinen Todfeind selbst!

Eine weitere Lücke im Kontinentalsystem war der Schmuggel, der unvorstellbare Ausmaße annahm. Lizenzen, falsche Flaggen, gefälschte Schiffs- und Ladepapiere, Bestechung und Hehlerei durchsiebten Napoleons Kontinentalsystem; es war, als ob man mit einem Korbgeflecht Wasser schöpfen wollte.

Mittlerweile machten sich auf dem Kontinent die Folgen der Kontinentalsperre immer deutlicher bemerkbar. Insbesondere für die Wirtschaft des Zarenreiches, die stark mit dem britischen Markt verbunden war, bedeutete der Anschluß an das Kontinentalsystem einen tiefen Riß im volkswirtschaftlichen Gefüge. Zar Alexander öffnete daher im Dezember 1810 seine Häfen für britische Waren, womit er den französischen Kaiser zu Gegenmaßnahmen provozieren mußte. Für Napoleon mußte ein Exempel statuiert werden, sollte nach Spanien nicht noch ein weiteres Land aus dem Blockadesystem herausbrechen.

Am 24. Juni 1812 überschritt Napoleon mit 600.000 Mann die russische Grenze. Aber bereits im Dezember wankten die Reste der „Grande Armée“ durch Europa zurück; auf nahezu 20.000 jämmerliche, halberfrorene Gestalten zusammengeschmolzen. Rußland hatte nicht wieder ins Kontinentalsystem hineingezwungen werden können, und der Feldzug hatte den Marinerüstungen Menschen und Material entzogen.

Napoleon hatte die Risse in seinem Kontinentalsystem nicht kitten können, im Gegenteil; immer neue kamen hinzu, eine Woge von Erhebungen der Völker gegen die napoleonische Zwangsherrschaft begann auf den Kaiser zuzurollen. Preußen und Österreich fielen von Napoleon ab. Zusehends zeichnete sich ab, daß sein Wirtschaftssystem gegen das britische Inselreich scheitern würde, ohne daß es den gewünschten Erfolg gebracht hätte. Es war zu spät! Der Korse war machtlos gegenüber der ständig anschwellenden Lawine seiner Feinde, er wurde von ihr überrollt. Am 31. März 1814 rückten die Verbündeten in Paris ein, und Napoleon war gezwungen abzudanken. Während sich auf dem Wiener Kongreß die Kräfte der Restauration formierten, kehrte Napoleon 1815 noch einmal für hundert Tage nach Frankreich zurück, doch die Schlacht bei Belle-Alliance (Waterloo) machte diesem Zwischenspiel ein schnelles Ende.

Der zweite Pariser Frieden (20. November 1815) beendete den zweiundzwanzigjährigen Kampf in Europa endgültig. Historisch betrachtet können die napoleonischen Kriege in ihrem Kern eigentlich als ein einziger, großer britisch-französischer Krieg angesehen werden, denn das Bestreben, den ganzen Kontinent dem Kaiseradler zu unterwerfen, hatte seine primäre Ursache im französischen Versagen, zu dem notwendigen Friedensschluß mit Großbritannien zu kommen.

Es war das Unglück des neutralen Seehandels, daß für ihn in dem Wirtschaftskrieg des Kontinentalsystems und der britischen Blockade kein Platz war. Großbritannien hat dagegen in den Jahren von 1801 bis 1812 von den requirierten Handelsschiffen fast 37.000 in seine eigene Handelsmarine eingegliedert. Ausgerechnet Großbritannien ging als überragender Sieger aus dem Zeitalter der Französischen Revolution und der napoleonischen Kriege hervor. Großbritannien beherrschte aufgrund seiner Vormachtstellung nunmehr unbestritten die Weltmeere und besaß ein riesiges, abermals vergrößertes Kolonialreich. Nicht nur das hundertjährige Ringen mit Frankreich war jetzt endgültig zu Großbritanniens Gunsten entschieden, sondern es fand damit gleichzeitig die zweieinhalb Jahrhunderte umfassende, dornenreiche Entwicklung Großbritanniens zur ersten See-Weltmacht ihren Abschluß.

Foto: Die britische und die holländische Flotte begegnen sich 1805 beim Kanaldurchbruch vor Boulogne: Von 1801 bis 1812 wurden fast 37.000 requirierte Handelsschiffe in die britische Handelsmarine eingegliedert

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