© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Wo ist Gottfried Benn?
Existenz nach dem Tod: Eine Spurensuche anläßlich des 125. Geburtstages des Dichters
Harald Harzheim

Wo ist Gottfried Benn? Der Dichter, dessen Geburtstag sich am 2. Mai zum 125. Male jährt und der vor fünfundfünfzig Jahren verstarb? Anstatt seine irdische Lebensspanne erneut abzuspulen oder unzähligen Interpretationen eine weitere hinzuzufügen („Wer war Gottfried Benn?“), anstatt die sattsam bekannte Wirkungsgeschichte erneut zu rezitieren, wieso fragen wir nicht nach dem Verbleib des Jubilars selbst? Wo ist Gottfried Benn? Jetzt, in diesem Moment?

Aber wer soll das beantworten? Der Dichter ist schließlich lange tot!

Ja, aber wer jemals Zeuge eines Sterbens war, der steht unmittelbar vor einem Rätsel: Wo ist der Verstorbene jetzt? Obwohl, vielleicht stellt man diese Frage auch nicht mehr. Mancher wird die Seele im christlichen Jenseits oder in neuer Reinkarnation vermuten, während Säkularisierte auf den Ganztod setzen. Danach erlischt mit dem Hirntod jedes Seelenleben, folgt ewige Bewußtlosigkeit, das pure Nichts.

Wenn man Gottfried Benn nicht für eine dieser Möglichkeiten vereinnahmen will, muß man fragen, was er selbst über den postmortalen Zustand dachte. Wo glaubte er hinzukommen? Natürlich meint man in seinem Fall, die Antwort schon zu kennen. Hatte der junge Expressionist Benn nicht den Schrecken der Anatomie in die Lyrik transportiert? Sang er im Zyklus „Morgue“ (1912) nicht finstere Lieder auf Kadaver, Verwesung und wuchernde Krebse? Auf die Endstation Seziertisch. Erkannte er im Tod nicht ein hoffnungsloses Splatter-Szenario, in Kadavern bestenfalls ein Beet für die „kleine Aster“? Aber, und das wird übersehen: Benn schildert hier nur äußere Erscheinung, das Hinterlassene. Neben dem medizinischen Materialisten stand der Mystiker der Subjektivität – und protestierte gegen solche Reduktion.

Freilich, metaphysische Systeme und theologische Axiome lieferte der Facharzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten nicht, im Gegenteil: nichts war ihm mehr zuwider. Aber, als 1951 sein Verleger Erich Reiss starb, schrieb Benn an dessen Witwe: „Ich glaube ja an eine irgendwie weitergeartete Existenz nach dem Tod, es ist kein Aufhören, die Toten bleiben bei uns u. gehören dazu, trotzdem bleibt das Aufhören des Sichtbaren und Ansprechbaren eine große Erschütterung.“

Irgend etwas scheint dem verfaulenden Gehirn des Toten doch zu entkommen, mag es unsichtbar und unansprechbar sein. Konkreter sollte Benn es nicht formulieren. Jedoch, selbst wenn der Mensch „irgendwie“ überdauert, bleibt immer noch die Frage nach dem „Wo“, nach einer jenseitigen Dimension. Einem mystischen Raum, der die empirische Welt transzendiert. Hatte der Dichter eine solche Sphäre auch nur angedeutet?

Ein Gedicht könnte hier weiterhelfen, es trägt den unspektakulären Titel „Gedichte“ und wurde in der Sammlung „Statische Gedichte“ (1948) publiziert (siehe Abdruck oben auf dieser Seite).

Im Jahr 1941, als zwei Ideologien, beide schlechtgetarnte Revolutionen des Nihilismus, einen Vernichtungskrieg gegeneinander führten, schrieb Gottfried Benn dieses einsame Selbstgespräch. Erst acht Jahre zuvor hatte er im Nationalsozialismus eine neue Chance zur Transzendenz gesehen, eine vitalistische Züchtungsmystik mit antikem Formbewußtsein. Bald folgten Ernüchterung und Schreibverbot. Und jetzt, als jener NS-Wertebluff im Siegesrausch zu triumphieren scheint, findet er im inneren Exil den Gott des Moses, dem man nicht ins Anlitz schauen kann, weil das den Betrachter sofort töten würde. „Und es wird geschehen, wenn meine Herrlichkeit vorüberzieht, dann werde ich dich in die Felsenhöhle stellen und meine Hand schützend über dich halten, bis ich vorübergegangen bin“ (2. Mose, 33,22). Dieser Gott ohne Namen wird für Benn zum Stundenspender.

Zwar erschienen die Verse im Zyklus „Statische Gedichte“, aber „statisch“ sind sie gewiß nicht: Vielmehr geht es um die Bewegung des Vorüberziehens. „Im Namen dessen“, meint laut Heidegger, unter „dem Geheiß“ dessen, der die Stunden spendet. Die Geschichte wird zum Schicksal, das die Parze absingt, das Steingeröll und Ruinen hinterläßt. Mancher mag solchen Schicksalglauben als Flucht vor dem eigenen geschichtlichen Versagen deuten. Vor der eigenen Schuld. Aber dann hätte Benn das Schuldgefühl gegen nicht minder zehrende Angst getauscht. Sieht er sich doch, in der „Weltruine“ aller „alten Bindungen“ entrissen, einsam wie auf „dem Ölberg, wo die tiefste Seele litt“. Benn vergleicht seine Gegenwart mit Jesus (der „tiefsten Seele“) einsamer Nacht, als er mit Todesängsten rang. Aber Benns „Gebet“ besteht im Singen der „Gedichte / die Dinge mystisch bannen durch das Wort“. Nur darin gibt es „ein Begegnen“, ein Entgegnen der Vergänglichkeit.

Nein, der agnostische Pfarrersohn Gottfried Benn, der 1920 in der Tablette die zeitgemäße Reinkarnation Gottes erkannte, ist mit diesen Versen kein gläubiger Christ geworden. Aber hinter dem Wahnsinn von Geschichte und Materie spürt er Transzendenz.

Natürlich führt er nur ein „Selbstgespräch“, aber sein „Stundenlied“ ist selbst unausdeutbar sowie der vorüberziehende Gott, der nur als Schatten erahnbar bleibt. Als geheimnisvolle Schicksalsmacht, die jegliche Zeit spendet, ihr also selbst nicht unterliegt. Sie ist das letzte metaphysische Wort des Dichters Gottfried Benn – und vielleicht auch das letztmögliche des Abendlandes. In ihm könnte eine „irgendwie weitergeartete Existenz“, jenseits von Sichtbarkeit und Ansprechbarkeit, noch möglich sein. Vielleicht hat Benn sie dort gefunden? Vielleicht ist er dort, unsichtbar und unansprechbar?

Jetzt, in diesem Augenblick.

 

Benn: Eine Auswahl aus seinem Werk

Anläßlich des 125. Geburtstags von Gottfried Benn ist soeben eine preisgünstige Kassette mit fünf Bänden erschienen, die einen guten Einstieg und Überblick in und über sein Werk ermöglichen. Sie enthält die Gedichtbände „Trunkene Flut“ und „Statische Gedichte“, die späten Reden und Vorträge zu den „Problemen der Lyrik“, ferner Benns Selbstdarstellungen unter dem Titel „Doppelleben“ sowie seine Novelle „Der Ptolemäer“. Mit Vorworten von Michael Lentz, Durs Grünbein, Uwe Tellkamp, Gerhard Falkner und Ulrike Draesner.

Gottfried Benn: Das Beste von Benn.5 Bände, Klett-Cotta, Stuttgart 2011, broschiert, insgesamt 792 Seiten, 35 Euro

Foto: Gottfried Benn (1886–1956); „biographisches“ Gedicht aus dem Jahr 1941: Selbstgespräch

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