© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Augen zu und durch
Uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU: Politik und Wirtschaft beschwören „Chancen“ und verdrängen Gefahren
Sverre Schacht

Mit dem 1. Mai tritt in der EU die uneingeschränkte Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie die volle Niederlassungsfreiheit in Kraft. Damit endet eine Übergangsfrist, die zuletzt den Zugang zum deutschen und österreichischen Arbeitsmarkt vor allem für die acht neuen osteuropäischen EU-Mitgliedsstaaten einschränkte. Deutschland und Österreich bestanden auf der längsten von der EU tolerierten Übergangszeit. Unternehmer aus den baltischen Staaten, aus Polen, Tschechien, Ungarn, Slowenien sowie der Slowakei genießen ab Mai mehr als nur die Freiheit, sich in Deutschland niederzulassen, also selbständig zu arbeiten.

In diesen Ländern ansässige Firmen dürfen nun auch Arbeitnehmer aus ihrer Heimat in die EU-Staaten mitnehmen. Galten bis dato Ausnahmen im Bau- und Reinigungsgewerbe, drängen jetzt in allen Branchen Arbeitskräfte und Dienstleistungen dauerhaft auf den deutschen Markt, aber nicht zu dessen Voraussetzungen – ein unfairer Wettbewerb, fürchten Arbeitsmarktexperten. Sozialexperten warnen gar vor einer zusätzlichen Belastung der Sozialsysteme. Da den Arbeitnehmern aus den neuen EU-Staaten die normalen Sozialleistungen (Kinder- und Wohngeld) zustehen und sie für die Dauer ihres Arbeitseinsatzes ebenso Ansprüche auf Renten- und Krankenversicherung geltend machen können.

Die EU-Verträge machen es möglich. Für sie geht es um den Ausbau des gemeinsamen Binnenmarkts, mehr noch, um die „Grundfreiheiten“ der EU. Nach deren Beschluß läuft die ab 2004 höchstens auf sieben Jahre festgelegte maximale Abschirmung der nationalen Arbeitsmärkte gegen die EU-Neumitglieder aus. Für Rumänien und Bulgarien gelten noch Fristen bis 2013. Dann ist auch von dort die grenzüberschreitende Überlassung von Arbeitnehmern nach Deutschland zulässig. Bisherige komplexe Werkvertragsvereinbarungen für Arbeitgeber, die osteuropäische Kräfte suchen, entfallen also. Eine Steuerung durch die zuständigen deutschen Behörden ist nicht mehr gestattet. Allein die Vorgaben des deutschen Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG) gelten auch für diese Arbeitnehmer, bieten ihnen einen gewissen Schutz.

Ganze Branchen in Deutschland fürchten angesichts der neuen Freizügigkeit unfaire Konkurrenz, Arbeitnehmer den Wegfall von Arbeitsplätzen. Gerade bei starken Unterschieden im Lohnniveau zweier Staaten sind Nachteile für Arbeitnehmer im Zielland der Arbeitsmigration zu erwarten: sinkende Löhne oder steigende Arbeitslosigkeit, so die Theorie. Die Löhne der nun zu erwartenden Arbeitsmigranten liegen in ihren Heimatländern teils bei weniger als einem Drittel der deutschen. Hinzu kommt ein starker Abwanderungsdruck aufgrund hoher Arbeitslosigkeit in Osteuropa nach der Wirtschaftskrise.

Wer als Bürger der neuen EU-Staaten in Deutschland in Lohn und Brot will, braucht ab Mai so oder so keine Arbeitsgenehmigung deutscher Behörden mehr. Schon mit der bisherigen Auslegung der Niederlassungsfreiheit, im Kern ein Kind des Europaprozesses der 1950er Jahre, steigt der Druck der EU auf deutsche Gesetze. Sie bedeutet das Recht für alle EU-Bürger, ein Unternehmen in jedem anderen EU-Staat aufzubauen. Mit dieser Freiheit konnten Schutzbestimmungen der jeweiligen Staaten für deren Arbeitsmärkte bisher kaum umgangen werden. Niederlassungsberechtigte Selbständige durften bisher nicht ohne weiteres nebenbei einer abhängigen Tätigkeit nachgehen. Das ist vorbei: Niederlassungsfreiheit, Dienstleistungsfreiheit und zuletzt nun die Arbeitnehmerfreizügigkeit sollen nach dem Willen der EU als ungestörter Dreiklang die Marktströme der Gemeinschaft prägen.

Der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) beschwichtigt Kritiker: „Keine Angst vor dem 1. Mai“. Die IHK-Ostbrandenburg spricht gar von einer „historischen Chance“, die genutzt werden sollte, „um den demographischen Wandel in Ostbrandenburg positiv zu beeinflussen“. Auch Handwerkskammern erwarten von der Arbeitnehmerfreizügigkeit „eher Chancen“. Die Befürworter rechnen mit geringer Zuwanderung. Von bis zu 140.000 Jobsuchenden aus Mittelosteuropa spricht die Bundesagentur für Arbeit.

Selbst im erwartungsgemäß stark betroffenen Brandenburg „würde sich vier Jahre nach der Öffnung der Anteil der Beschäftigten aus den acht neuen EU-Staaten an den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von 0,4 Prozent auf 1,2 Prozent erhöhen“, wiegelt die rot-rote Landesregierung ab.

Sie beschwört das „weltoffene Brandenburg“, sieht sich „gut vorbereitet“ und will angesichts des immer noch starken Lohngefälles „im Interesse“ der Arbeitnehmer auf beiden Seiten der Oder „weiterhin auf Bundesebene für einen gesetzlichen Mindestlohn kämpfen“.

Eine jüngste Anhörung im Sozialausschuß des Bundestages ergab hingegen: „Experten bewerten die Konsequenzen der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterschiedlich.“ Unter den Experten war auch das Beratungsbüro für entsandte Beschäftigte. Das stellt fest, gerade auf dem Bau und in der Pflege gebe es unabhängig vom geltenden Mindestlohn rechtliche Lücken, die durch Unternehmen „häufig und gerne“ genutzt würden, um die Mindestlohngrenze zu unterschreiten.

Gewerkschafter versuchen indes, hinzukommende EU-Arbeitnehmer in mehrsprachigen Broschüren aufzuklären. „Eine wichtige Voraussetzung für die Einhaltung der am Arbeitsort geltenden Arbeits- und Sozialstandards ist die Information und Beratung der mobilen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer selbst. Sie müssen wissen, welche Rechte sie haben, wenn sie in einem fremden Land arbeiten“, so Doro Zinke, Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg.

Nur wenige Branchen versuchen, einer möglichen Konkurrenz durch allzu günstige osteuropäische Mitbewerber über die Einführung von Mindestlöhnen entgegenzuwirken. Der Pflegesektor, die Sicherheitsbranche und der Einzelhandel bereiten sich so vor. Dennoch: Deutsche können ab Mai als „Unternehmer“ eine polnische Pflegekraft einstellen – ohne Genehmigungspflicht. Der Bundesverband Europäischer Betreuungs- und Pflegekräfte (BEBP) e.V. fürchtet mehr Schwarzarbeit, wenn Privatleute als Unternehmer auftreten und Pflegekräfte nicht nach den geltenden Bestimmungen beschäftigen. „Die Versuchung, hier mit einem pseudo-legalen Arbeitsverhältnis die hohen Abgaben zu umgehen, ist sehr hoch“, so Larisa Dauer vom BEBP. Die größten Herausforderungen sind indes durch Leiharbeit zu erwarten. Über eine Million Menschen sind deutschlandweit in diesem Sektor tätig, Tendenz steigend. Arbeitsmarktexperten fürchten hier ab Mai Drehtüreffekte auf Kosten deutscher Stammbelegschaften.

Im März beschloß die Bundesregierung ein Verbot der Entlassung von Belegschaften mit anschließender Neuanstellung als Zeitarbeiter bei der alten Firma oder einer Tochtergesellschaft. Anlaß der gesetzlichen Schranke ist die allgemeine Tendenz zur Auflösung regulärer Beschäftigung seitens der Arbeitgeber mit Hilfe von Leiharbeit. Daß ein Mindestlohn für Leiharbeiter auf dem Hintergrund der EU-Regeln nötig ist, erkennt die CDU/FDP-Regierung quasi in letzter Minute – mit dem Verbot im März führte sie einen gesetzlichen Mindestlohn in der Leih-Branche von 7,79 Euro im Westen und 6,89 Euro im Osten ein.

Das Gesetz steht im Widerspruch zur bisherigen schwarz-gelben Ablehnung von Mindestlöhnen, wie die Opposition bemerkt. Für sie wie die Gewerkschaften ist der Wegfall der Schutzvorschriften ein Grund, erneut den allgemeinen Mindestlohn zu fordern. Der DGB fürchtet durch die Freizügigkeit „Lohndumping, insbesondere in Branchen mit niedriger Tarifbindung“. Welche Auswirkungen und Verlockungen die neue Freizügigkeit bringt, ist aber auch dort kaum erforscht. Der ursprüngliche Grund für die Einführung der Übergangsfristen besteht indes weiter: das Lohngefälle.

Foto: Neue Freiheiten: Ab 1. Mai fallen die letzten Schranken für Arbeitnehmer aus den im Jahr 2004 der EU beigetretenen Ländern Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn

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