© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  18/11 29. April 2011

Veränderte Feindlagen
Wehrdienst: Als Marinesicherungssoldat zur Zeit der Wiedervereinigung / JF-Serie, Teil 2
Matthias Bäkermann

Der Aggressor hieß grundsätzlich „Rotland“, das friedliche „Blauland“ wurde zudem gern aus dem Osten angegriffen, nachdem man dort „aus Großmanövern einen Teilaufmarsch begonnen hatte“. Die jeden Befehl einleitenden Feindlagen ähnelten sich in der Grundausbildung im Herbst 1989 frappierend. Im Fach Politische Bildung, den Wehrdienstleistenden wöchentlich von einem Kapitänleutnant erteilt, wurde auf derlei Verschleierungen verzichtet.

Uns „76ern“, als Infanteristen der Marine damals meist für den Objektschutz zuständig, präsentierte man in Planspielen „Mot.-Schützenregimenter“ der Nationalen Volksarmee (NVA), die in Richtung Nordsee mit sowjetischen Panzerarmeen oder an die holsteinischen Gestade mit gewaltigen amphibischen Anlandungen vorstoßen würden. „Unsere gefährlichsten Gegner sind sowjetische Speznas-Kommandos, die den Hauptstreitkräften durch Sabotageaktionen und Erobern von Schlüsselobjekten das Feld bereiten. Diesen Elitesoldaten sind alle gängigen Nato-Waffen vertraut, sie sprechen perfekt Deutsch, manche sogar regionale Dialekte ...“

Als ich am Montag, den 2. Oktober 1989 meinen 15monatigen Wehrdienst antrat, wie die allermeisten meines Abiturjahrgangs, konnte ich nicht ahnen, daß ein Jahr später – fast auf den Tag genau – nicht nur die deutsche Wiedervereinigung anstehen, sondern auch das bipolare Machtgefüge Mitteleuropas weichen sollte. Den 9. November erlebte ich in der Kaserne in Glückstadt an der Elbe an einem trüb-kalten Donnerstagabend, wo wir nach über einer Woche „Gelände“, wie der Truppenübungsplatz-Aufenthalt bei Itzehoe lakonisch genannt wurde, mit klammen Fingern und dreckigem Oliv von den „Zwotonner“-Unimogs stiegen. Alle fieberten der am folgenden Freitag nach dem obligatorischen „Großreinschiff“ anstehenden Wochenendfreizeit entgegen.

Uninformiert wie wir waren (im Biwak gab es weder Radio noch Zeitungen, Mobiltelefone waren unbekannt), ließen wir Matrosen uns bei dem überraschenden Appell am Abend („Alarm!!!“) ins Bockshorn jagen. Sofort etwas Bedrohliches im Lagebericht „die Mauer ist offen“ witternd, schreckten meine angetretenen Kameraden und ich verdutzt auf, als der vor die Front tretende Korvettenkapitän in beunruhigendem Pathos über „politische Umbrüche“ im Kontext der Pressekonferenz eines völlig unbekannten SED-Politbüro-Mitglieds schwadronierte. Sollten die Genossen den bekannten innenpolitischen Schwierigkeiten in der DDR etwa mit einer militärischen Offensivaktion gegen den Klassenfeind ein Ventil öffnen? Erst der kollektive Sturm ins Fernsehzimmer nach dem Appell brachte die letzte Gewißheit: Weder „Teilaufmarsch“ noch Angriffskrieg drohten uns durch die nun offene Grenze aus dem Osten.

Aber auch die kühnsten Propheten hätten an diesem Abend nicht voraussehen können, daß schon ein Jahr später Bundeswehrsoldaten mit der „Feindwaffe“ Kalaschnikow AK-47 ihren Dienst tun sollten, die für eine Übergangsfrist als offizielle „StAN“-Waffe in die Truppe kam. Genausowenig hätte ich geahnt, NVA-Offizieren meinen Gruß zu entrichten oder gar von ihnen ausgebildet zu werden. Mittlerweile zum „SaZ 2“ (Soldat auf Zeit für zwei Jahre) verpflichtet, sollte ich als frischgebackener Seekadett an der Marineschule in Flensburg-Mürwik auf viele Fregattenkapitäne der Volksmarine treffen, denen man dort  noch irgendwelche Umerziehungslehrgänge zumutete, obwohl ihr Schicksal im Zeichen der personellen Abrüstung ohnehin feststand. Fast mitleiderregend schlichen diese alten Soldaten wie geprügelte Hunde durch die ehrwürdigen Gänge „der Burg“, meinen militärischen Gruß zaghaft erwidernd.

Andere Begegnungen mit Ex-NVA-Soldaten sollten weniger beklemmend sein. Beeindruckend waren zum Beispiel die im Dienstgrad vom Leutnant auf Oberfeldwebel herabgestuften Männer des „Luftsturmregiments Willi Sänger“, die als schneidige Hörsaalgruppenleiter mit thüringischer Mundart meine Fallschirmspringer-Ausbildung in Oberbayern steuerten.

Ach ja, zufällig traf ich etwas später auf leibhaftige Speznas-Soldaten der Roten Armee in Rostock. Ich wollte von diesen kernigen Burschen gern erfahren, mit welcher der Nato-Waffen sie denn am besten umgehen könnten, doch leider erntete ich nur Schulterzucken. Niemand von dieser „Rotland“-Elite sprach auch nur eine Silbe Deutsch, auch mit Plattdeutsch konnten sie nicht dienen.

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