© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Keine Machtergreifung auf die Bücherregale
Totalitarismusfreie Zonen: Das Leseverhalten im Dritten Reich war erstaunlich heterogen
Hans-Joachim von Leesen

Wenn man die Mentalität der Normalbürger eines Volkes in einer bestimmten Phase seiner Geschichte erfassen will, kann es erhellend sein, wenn man seine Lesegewohnheiten in diesem Zeitabschnitt erforscht. So geht man denn auch mit einigen Erwartungen an die Lektüre des Buches von Christian Adam unter dem Titel „Lesen unter Hitler“. Welche Autoren haben die Deutschen zwischen 1933 und 1945 geschätzt, welche Titel wurden Bestseller, was ist daraus über die Einstellung der Leser zu schließen?

Es sei vorweggenommen, daß der Autor feststellt, es habe eine einheitliche nationalsozialistische Richtung bei den damals erschienenen Büchern nicht gegeben. Eine nationalsozialistische Kulturpolitik habe er vergebens gesucht, was für einen totalitären Staat erstaunlich ist. Stattdessen erfährt der Leser, daß zwar Adolf Hitlers Buch „Mein Kampf“, das 1926, oder der Band 2 ein Jahr später erschienen ist, bis zum Ende des Krieges mit fast 12,5 Millionen Exemplaren an der Spitze stand (wobei leider nicht erwähnt wird, ob darin die zahlreichen ausländischen Lizenzausgaben enthalten sind), daß aber die Mehrzahl der Bestseller mit einer Auflage von wenigstens 100.000 alles andere als nationalsozialistische Tendenzliteratur war.

Beliebt waren schon damals vor allem vermutlich bei männlichen Bücherkäufern Science-fiction-Romane, für die der Autor Hans Dominik mit seinem Spitzentitel „Land aus Feuer und Wasser“ (Auflage 252.000) steht; drei andere Bücher von ihm lagen bei über 100.000. Fachbücher zu technischen Themen, die in spannender Weise die Entwicklung und Auswirkung neuer Technik darstellten, genossen hohe Wertschätzung, wie beispielsweise Karl Aloys Schenzingers Buch „Anilin“, das 1937 erschien und bis Kriegsende 920.000 Mal verkauft wurde.

Regierungsmitglieder liebten es, wie sie es auch heute tun, ihre Erinnerungen zu schreiben wie etwa Joseph Goebbels, der unter dem Titel „Vom Kaiserhof zur Reichskanzlei“ sein Tagebuch vom 1. Januar 1932 bis zum 1. Mai 1933 veröffentlichte und damit eine Auflage von 660.000 erreichte.

Überraschen dürfte heutige Zeitgenossen, daß damals ein Buch eine Auflage von 390.000 erreichte, das die deutsch-französische Freundschaft zum Thema hatte. Polly Maria Höfler, eine nach dem Ersten Weltkrieg aus Lothringen vertriebene Deutsche, war die Autorin von „André und Ursula“. Sie erzählt die Geschichte einer Liebe zwischen einer deutschen Studentin und einem französischen Soldaten und ist ein eindringlicher Appell zur Aussöhnung Deutschlands und Frankreichs. Christian Adam bemängelt allerdings, daß die Autorin nicht einen Internationalismus predigt, sondern lediglich einen „verständigungsbereiten Nationalismus“. Nach dem Krieg verbot der Alliierte Kontrollrat das Buch, was im 3. Nachtrag zur „Liste der auszusondernden Literatur“, die insgesamt 34.645 Einzeltitel sowie zahlreiche Sammelverbote wie alles über den Ersten Weltkrieg oder alles über die Olympischen Spiele 1936 enthielt, dokumentiert ist. Dennoch wurde 1952 das Buch verfilmt.

Verständlich, daß nicht einmal zwanzig Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zahlreiche Bücher erschienen, in denen sich vor allem ehemalige Soldaten ihre Erlebnisse von der Seele schrieben, und das nur selten in der Form, wie es der auch heute noch berühmte Erich Maria Remarque mit seinem Buch „Im Westen nichts Neues“ getan hatte. Sein Buch stand im übrigen damals auf der „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums im Dritten Reich“, die 1935 erschien. Christian Adam kann nicht umhin zuzugestehen, daß die in hohen Auflagen verbreiteten Bücher, etwa Werner Beumelburgs „Sperrfeuer um Deutschland“ mit 363.000 Exemplaren, natürlich auch Walter Flex mit 622.000 verkauften Büchern seines 1916 erschienenen Kriegsbuchs „Der Wanderer zwischen beiden Welten“, P. C. Ettighoffer („Verdun. Das große Gericht“, 304.000) und Thor Goote („Wir fahren den Tod“, 340.000), weit entfernt waren vom Hurrapatriotismus des Jahres 1914, sondern den Krieg in seiner ganzen Grausamkeit ungeschminkt darstellten – das bescheinigt er sogar dem dezidiert nationialsozialistischen Autor Hans Zöberlein, dessen Buch „Der Glaube an Deutschland“ eine Auflage von 740.000 erreichte. Allerdings nimmt Christian Adam diesen Büchern übel, daß sie nicht pazifistisch sind.

Insgesamt beurteilt Adam die damaligen Bücher nach aktuellen weltanschaulichen Maßstäben der politischen Linken. So kritisiert er, daß in Liebesromanen die Mutter gefeiert wird. Nur ironisch kann er vermelden, daß ein überaus erfolgreiches Handbuch mit Ratschlägen für die junge Mutter den Titel „Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind“ trug. Es erschien nach dem Krieg erneut, wenn auch ohne das Adjektiv „deutsch“, und war nicht minder erfolgreich.

Auch jene Autoren, die politikfreie Unterhaltungsliteratur verfaßten, können nach dieser Diktion in den Augen des Verfassers selbstverständlich nur „Nazis“ sein, trugen sie doch durch die Verbreitung guter Laune zur Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes bei, weshalb sie „das genaue Gegenteil von harmlos“ waren. Hier führt er auch den Autor der „Feuerzangenbowle“ Heinrich Spoerl auf („Man kann ruhig darüber sprechen“, Auflage etwa eine Million), aber auch Eugen Roth („Ein Mensch“, 455.000), Johannes Banzhaf („Lustiges Volk“, 817.000) und Ehm Welk („Die Heiden von Kummerow“, 739.000).

Das galt jedoch nicht für ausländische Autoren, deren Bücher in deutscher Übersetzung große Erfolge waren, wie Margaret Mitchells „Vom Winde verweht“ (1937 erschienen, bis 1945 366.000 Exemplare verkauft), Trygve Gulbranssen „Und ewig singen die Wälder“ und „Das Erbe von Björndal“ (jeweils mehr als 630.000). Zu den in Deutschland erfolgreichen Verfassern gehörte der Nobelpreisträger Knut Hamsun („Segen der Erde“ und „Victoria“ je über 300.000). Die deutsche Ausgabe von Antoine de Saint-Exupérys „Wind, Sand und Sterne“ erschien 1940 und wurde bis Kriegsende 135.000mal verkauft. Beliebt war auch ein Buch des englischen Autors Warwick Deeping („Hauptmann Sorrell und sein Sohn“, 300.000), wie überhaupt bis Kriegsausbruch Übersetzungen aus dem englisch-  und französischsprachigen Raum wie auch aus den skandinavischen Sprachen bemerkenswert zahlreich waren. Ausgeschlossen waren hingegen Bücher jüdischer und dezidiert „deutschfeindlicher“ Verfasser. Man konnte, das sei am Rande vermerkt, in Deutschland auch bis 1939 an jedem größeren Kiosk die Presse der Welt kaufen, mit Ausnahme der UdSSR. Darauf hat bereits Hans Dieter Schäfer in seinem aufschlußreichen Buch „Das gespaltene Bewußtsein“ 1981 hingewiesen.

Auch Autoren der Inneren Emigration wie Werner Bergengruen und Hans Fallada, die nach dem Krieg teilweise sogar als Widerstandskämpfer stilisiert wurden, erreichten mit ihren Büchern wie „Der Großtyrann und das Gericht“ oder „Kleiner Mann, was nun?“ im Dritten Reich jeweils eine Auflage von fast 200.000. Die Ergebnisse der Forschung Christian Adams, die er in seinem Buch „Lesen unter Hitler“ präsentiert, sind nicht neu. Bereits vor einigen Jahren erschien im Heft 1/2004 der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte ein lesenswerter Beitrag, der die Aussage des Buches vorwegnahm. Allerdings konnte der VfZ-Artikel nicht Adams krawall-antifaschistischen Tonfall aufbieten, sondern beschränkte sich auf schnödere Sachlichkeit.

Christian Adam: Lesen unter Hitler. Autoren, Bestseller, Leser im Dritten Reich. Verlag Galiani, Berlin 2010, gebunden, 304 Seiten,19,95 Euro

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