© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Die Erbschleicher der Hochkulturen
Türkische Interpretatoren des „anatolischen Troja“ verweisen auf die Rolle ihres Staatsgebietes als Mutterland der europäischen Kultur
Wolfgang Kaufmann

Im Jahr 1923 wurde auf den Trümmern des Osmanischen Reiches, das durch den aufgezwungenen Friedensvertrag von Sèvres riesige Gebiete verloren hatte, die vorwiegend auf Anatolien begrenzte Türkische Republik errichtet. Hieraus erwuchs für Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk die Notwendigkeit, eine neue nationale Identität türkisch-anatolischer Prägung zu entwickeln: Die von den früheren osmanischen Eliten mit arabischen oder persischen Wurzeln oft verachteten ethnischen Türken sollten nunmehr Stolz auf ihr Türkentum entwickeln und sich nicht mehr als das sehen, als was sie bis dahin gemeinhin galten, nämlich als Nachkommen von kulturell inferioren Nomaden aus den Steppen Zentralasiens, die ab dem 11. Jahrhundert in wiederholten Wellen in Anatolien eingefallen waren. Deshalb gab Atatürk die Parole aus, daß die heutigen Türken die Erben sämtlicher früherer Hochkulturen Klein-asiens, beginnend mit den Hethitern, seien. Und er förderte die türkische Archäologie, deren Hauptaufgabe darin bestand, das zu beweisen. 

Als Konsequenz hieraus kam es unter anderem zu einer massiven Instrumentalisierung des Troja-Mythos. Das heißt, die Ruinen auf dem Hügel Hisarlik, welche seit den Tagen Heinrich Schliemanns als Überreste des homerischen Troja hingestellt werden, mußten ebenfalls dazu herhalten, das neue türkische Selbstwertgefühl zu zementieren. Hierzu jubelte man den realiter höchstens drittklassigen Außenposten des ägäischen Kulturkreises nahe den Dardanellen zu einer bronzezeitlichen Super-Metropole mit vorwiegend anatolischen Wurzeln hoch. Aber damit nicht genug: Um auch gegenüber dem Westen aufzutrumpfen, der das Osmanische Reich zerstückelt hatte und die Türkei seither von oben herab behandelte, wurde zudem noch behauptet, das „anatolische Troja“ sei quasi der Nährboden gewesen, auf dem die europäische Kultur entstanden sei. Nun böten diese Auswüchse einer bemühten nationalen Identitätssuche einfach nur Anlaß zu mehr oder weniger desinteressiertem Schulterzucken, wenn die Geschichtsfiktion, in der Anatolien zur Wiege der gesamten europäischen Antike mutiert und die Türken zum bedeutendsten Volk der Vergangenheit aufsteigen, nicht bis in die heutige Zeit und auf zunehmend offensive Weise propagiert würde.

So appellierte der damalige türkische Staatspräsident Ahmet Necdet Sezer im Jahre 2001 an die deutsche Öffentlichkeit, nun bitte endlich zur Kenntnis zu nehmen, „daß sich die stärksten Wurzeln der europäischen Kultur in Anatolien befinden“! Und Kultusminister Istemihan Talay ergänzte, am Beispiel Trojas könne doch jedermann klar ersehen, „daß Anatolien verglichen mit allen Regionen der Welt im Zusammenhang mit der Entstehung unserer heutigen Kultur eine führende Rolle einnimmt“ (Zitate entstammen den Grußworten der beiden türkischen Politiker anläßlich der Eröffnung der Ausstellung „Troia – Traum und Wirklichkeit“ in Stuttgart).   

Die Botschaft hinter solchen und ähnlichen Sprüchen (heute insbesondere zu finden in der stramm kemalistischen Tageszeitung Cumhuriyet) ist natürlich unüberhörbar: Die Deutschen bzw. die Europäische Union werden doch wohl nicht so verblendet sein, auf die Bereicherung zu verzichten, welche mit einem Beitritt der Türkei, also des Mutterlandes der europäischen Kultur, verbunden sei!? Und tatsächlich hat der stete Tropfen mittlerweile so manchen Stein gehöhlt, wie diverse Politikeräußerungen belegen. Andererseits kann man die blauäugig-anatolistische Denkart von europäischen Befürwortern eines türkischen EU-Beitritts aber keineswegs nur mit der kontinuierlichen Propaganda Ankaras erklären.

Mindestens die gleiche fatale Wirksamkeit entfalten bis heute die skandalösen Befundmanipulationen des 2005 verstorbenen Tübinger Troja-Ausgräbers Manfred Korfmann: Dieser Archäologe deutete seine eher kümmerlichen Grabungsergebnisse einfach so lange um, bis sie zum Mythos von der angeblichen anatolischen Prävalenz gegenüber Europa paßten – was dann im März 2004 auch folgerichtig mit der türkischen Ehrenbürgerschaft belohnt wurde. Nunmehr können sich all jene Politiker in Deutschland und anderswo, welche die Türkei in die Europäische Union holen wollen, sogar auf angeblich „gesicherte“ Erkenntnisse westlicher Wissenschaft berufen. Und das tun sie auch, wie das Beispiel einer Fernsehdiskussion zeigt, in deren Verlauf eine prominente Parteigenossin des SPD-Mitglieds Manfred Osman Korfmann ihren Widersachern, die der Türkei die EU-Reife absprachen, ein besserwisserisch-empörtes „Aber Troja!“ entgegenschleuderte.

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