© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Moralisches Schweigediktat
Thilo Sarrazin in der Halberstädter Moritzkirche
Christian Dorn

Der Gesprächsabend in der Halberstädter Moritzkirche am vergangenen Donnerstag dürfte für den ehemaligen Bundesbankvorstand und Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin nicht alltäglich gewesen sein. Ein erster Termin mit dem gefürchtetsten Buchautor der deutschen Gegenwart war Ende Februar – vor allem nach innerkirchlichen Protesten und einem mehrtägigen „Friedensgebet“ in der Liebfrauenkirche – abgesagt worden (JF 9/11, 10/11), um der NPD keine Wahlkampfhilfe zu leisten. Doch die Angst vor den „Rechten“ respektive „Faschisten“ (MagdeburgerVolksstimme) hält noch immer an: Unmittelbar vor Veranstaltungsbeginn weist der co-moderierende Pastor Hartmut Bartmuß von der Selbständigen Evangelisch-Lutherischen Kirche (SELK) die Polizei an, einen Besucher aus Bad Frankenhausen – Kirchenmitglied und offenkundiger Sarrazin-Anhänger – rauszuwerfen und brüstet sich damit, als er den Abend eröffnet: „Das Hausrecht haben wir auch schon ausgeübt!“ Befremdlich, lächerlich und zugleich zynisch wirkt da das musikalische Rahmenprogramm: Zur Einstimmung spielt eine Band den Mariah-Carey-Song „With-out You“.

Den richtigen Ton vor den etwa 400 Besuchern trifft aber nur Sarrazin, der auch den Vorfall des Saalverweises aufgreift: „Wenn ein NPD-Mann in Halberstadt mit einem Transparent herumläuft, auf dem steht, Sarrazin hat recht und die Erde ist rund, dann werde ich nicht sagen, die Erde ist flach.“ Neben den bekannten Statistiken und Thesen seines Buches erklärt Sarrazin, warum erst heute über die nationalen Existenzfragen geredet werde: „In Deutschland gab es ein moralisches Schweigediktat.“ Ob des heftigen Applauses, der plötzlich aufbrandet, läßt er seinen heftigsten Kritiker, Patrick Bahners, unerwähnt. Der hatte vor eben jener „Gemeinde“ gewarnt, die sich erstaunlich schnell um Sarrazin gebildet habe. Auf einem entsprechenden Altarbild, hatte Bahners phantasiert, „müßte man den Heiligen Thilo“ als denjenigen darstellen, „der seine abgeschnittene Zunge in der Hand hält“.

Der aber denkt nicht daran. Mit Blick auf den kommenden Donnerstag, wenn die SPD Berlin über Sarrazins Parteiausschluß befinden will, gibt sich Sarrazin siegessicher. Er lasse sich „nicht von einem der durchreisenden Parteivorsitzenden“ aus der SPD werfen, und ergänzt: „Der Gabriel konnte das Wort SPD noch gar nicht sprechen, da war ich schon längst dabei.“

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