© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

Neue Konflikte sind programmiert
Energiepolitik: Durch den „schnellstmöglichen“ Atomausstieg wächst die Bedeutung von Gas, Öl und Kohle
Wolfhard H. A. Schmid

Wir alle wollen schnellstmöglich aus der Kernenergie aussteigen und in die Versorgung mit erneuerbaren Energien um- und einsteigen“, verkündete Angela Merkel anläßlich des Bund-Länder-Treffens zur Energiewende. Bereits im Mai sollen das Gutachten der Reaktorsicherheitskommission und die Vorschläge der Ethik-Kommission vorliegen. Im Juni befaßt sich das Bundeskabinett mit dem Atomausstieg, danach folgen die Lesungen im Bundestag, am 17. Juni soll der Bundesrat abschließend beraten. „Dies zeige den gemeinsamen politischen Willen, in kurzer Zeit zu Entscheidungen zu kommen“, so die Bundeskanzlerin.

Doch trotz der verheerenden Fuku­shima-Katastrophe gilt es dennoch, einen klaren Kopf zu bewahren, denn der Turboausstieg macht Deutschland zu keiner Insel der Glückseligen. Derzeit werden weltweit 144 Atomkraftwerke geplant oder neu gebaut. In der Tschechei und Slowenien arbeiten technisch veraltete AKW. Frankreich deckt mit seinen 58 AKW etwa 40 Prozent seines Primärenergiebedarfes – ein Ausstieg steht nicht zur Debatte. Die Prämisse kann daher europaweit nur lauten: Veraltete Anlagen abschalten und moderne Anlagen mit höchsten Sicherheitsstandards ausrüsten.

Die Zahlen der Arbeitsgemeinschaft Energiebilanzen (AGEB) zeigen, daß der Primärenergiebedarf (Strom, Heizung, Industrie, Verkehr) in Deutschland immer noch zu fast 90 Prozent durch fossile Energieträger und Atomkraft abgedeckt wird. Erdöl und Erdgas sind mit einem Anteil von fast 56 Prozent die Hauptenergieträger. Angesichts der Importabhängigkeit und der unausweichlichen Preissteigerungen in diesem Bereich spricht auch jenseits der Atom- und CO2-Debatte einiges für die Weiterentwicklung von erneuerbaren und alternativen Energieträgern wie der Windkraft (siehe Seite 22).

Hinzu kommt, daß Kohlekraftwerke nur eine Lebensdauer von 40 Jahren haben, die meisten sind bereits überaltert. Die anstehenden Ersatzinvestitionen eröffnen die Chance für modernste Technik. Doch obwohl neue Stein- und Braunkohlekraftwerke längste keine „Dreckschleudern“ mehr sind, stoßen Kraftwerksneubauten vielerorts auf heftigen Widerstand.

Seit Jahren arbeiten Ingenieure daran, Alternativlösungen zum relativ teuren Erdgastransport via Rohrleitungen marktreif zu machen. Bei den bisherigen Erdgaspipelines sind alle 100 bis 150 Kilometer Kompressorstationen erforderlich, um den Leitungsdruck zu gewährleisten. Dagegen ermöglicht die Gasverflüssigung direkt an der Erdgasquelle den Schiffstransport. Laut Angaben der Bundesanstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe (BGR) kann bei Haverien eine sofortige Regasifizierung erfolgen, so daß keine Gefahr für die Umwelt entsteht. Allerdings sind Gastanker auch ein potentielles Terrorziel, was zusätzlichen Sicherheitsaufwand erforderlich macht. Bereits heute werden transnational etwa 25 Prozent des Erdgases in verflüssigter Form transportiert.

Die Firma MAN wurde von Katar beauftragt, eine Gasverflüssigungsanlage mit sieben in Reihe geschalteter Großkompressoren zu errichten, die einen Leistungsbedarf von 640 Megawatt haben – was dem Stromverbrauch einer 700.000-Einwohner-Stadt entspricht. Weitere Projekte sind zu erwarten. Kürzlich haben MAN und der Triebwerksbauer MTU eine Kooperation für die Entwicklung von noch leistungsfähigeren Kompressoren beschlossen, wobei die MTU ihr Wissen aus dem Flugzeugbau einfließen läßt. In der norwegischen Barentssee entsteht derzeit die weltgrößte Erdgasverflüssigunganlage. Für diese schwimmende Prozeßanlage liefert die Linde AG das Herzstück. Von hier soll künftig Flüssiggas (Liquid Natural Gas/LNG) nach Frankreich, Spanien und in die USA geliefert werden.

Nicht zuletzt durch den wachsenden Energiebedarf in China ist der weltweite Kohlebedarf wesentlich stärker als der von Erdöl und Erdgas gewachsen. Somit wird die Kohle laut BGR in Zukunft weltweit wichtigster Energieträger sein. Dies erklärt auch die Anstrengungen in der Entwicklung „CO2-freier“ Kohlekraftwerke. In Deutschland hat der schwedische Staatskonzern Vattenfall ein Versuchskraftwerk in Betrieb.

Da bei der Kohleverstromung unweigerlich CO2 entsteht, wird daran gearbeitet, das als klimaschädlich geltende Gas abzuscheiden. Bei der Rauchgaswäsche wird eine amin- oder karbonat­haltige Flüssigkeit in den Abgasstrom gesprüht, die das CO2 absorbiert. Durch Erhitzen dieser Flüssigkeit wird das CO2 wieder ausgetrieben und gesammelt. Beim sogenannten Oxyfuel-Prozeß wird reiner Sauerstoff statt Luft bei der Verbrennung eingesetzt, der aber erst durch energiefressende Luftzerlegung gewonnen werden muß. Da das Abgas – mangels Stickstoff – nur aus CO2 und Wasserdampf besteht, läßt sich das CO2 auch durch Abkühlen und Kondensation des Wasserdampfes leicht gewinnen. Der dritte Prozeß, der „Integrated Gasification Combined Cycle“, arbeitet mit Kohlevergasung.

In allen drei Fällen muß CO2 aber in großen Mengen dauerhaft sicher gespeichert werden (Carbon Dioxide Capture and Storage/CCS), was einen hohen (Energie-)Aufwand erfordert. Das führt zu neuen Akzeptanzproblemen in der Bevölkerung, wie der Widerstand in Brandenburg und Schleswig-Holstein gegen die geplanten CCS-Projekte zeigt – denn wer will schon eine riesige Kaverne (unterirdische Hohlräume) gefüllt mit Millionen Tonnen CO2 unter seinem Grund und Boden haben. Im Gesetzentwurf der Bundesregierung zur CCS-Erprobung sind daher weitreichende Länderklauseln enthalten. Der politische Wille zur Energiewende ist sicherlich vorhanden – doch die technischen Details bergen neuen Konfliktstoff, der weit über die Ästhetik von Windrädern und Strommasten (JF 9/09) hinausgeht.

Foto: Tagebau von Rheinbraun: Braun- und Steinkohle decken weiterhin mehr als ein Fünftel des gesamten deutschen Primärenergiebedarfs

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