© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  17/11 22. April 2011

„Bitte nicht den Rasen betreten“
Reise nach Tschernobyl: Auch 25 Jahre nach dem Super-GAU herrscht an dem Reaktor und in der Geisterstadt Prypjat eine eigenartige Stille, die nur durch das Knistern des Dosimeters durchbrochen wird
Maria Filatow

Je näher das 25. Jubiläum der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl rückt, desto mehr Touristen kommen zu dem havarierten Atomreaktor. Nach Fukushima waren es Hunderte Besucher wöchentlich. Obwohl seit dem Super-GAU von Tschernobyl ein Vierteljahrhundert vergangen ist, sind Kraftwerk und Sperrgebiet immer noch gefährlich verstrahlt.

Das ukrainische „Ministerium für außerordentliche Situationen und den Schutz der Bevölkerung vor den Folgen der Tschernobylkatastrophe“ hat einen Besichtigungstermin für Journalisten organisiert. An diesem Tag im April sind 50 Journalisten auf dem Weg zur Geisterstadt Prypjat und dem Sarkophag von Tschernobyl. Sie wollen sehen, wie gefährlich der Ort heute noch ist.

Der Weg von der Hauptstadt Kiew bis zum Kernkraftwerk in Tschernobyl dauert etwas mehr als zwei Stunden. „Was hast du da verloren?“ – das werden Tschernobyl-Reisende oft gefragt, die diesen traurigen Ort aufsuchen, den vor der atomaren Explosion kaum jemand außer den Bewohnern selbst kannte. Auch heute sind die normalen Ukrainer nicht scharf darauf, einen Ausflug dorthin zu machen. Wer will eigentlich eine tote Geisterstadt wie aus einem Horrorfilm mit eigenen Augen sehen? Es gibt Gerüchte über „verrostete“ Wälder, die gelb von der Verstrahlung geworden sind, oder Himbeeren, so groß wie Äpfel, verwirrte Tiere mit zwei Köpfen und noch viele unglaubliche Dinge.

Einige Reisebüros bringen neugierige Touristen, von den Einheimischen als Atomtouristen bezeichnet, für 100 Euro in das geheimnisumwobene Sperrgebiet: 30 Quadratkilometer kontaminierter Boden rund um den Reaktor. Insgesamt 2.500 Quadratkilometer – inklusive der Städte Prypjat und Tschernobyl – werden höchstwahrscheinlich für immer unbewohnbar bleiben. 900 Tonnen Reaktorgraphit und 70 Tonnen Uran wurden 1986 freigesetzt und gingen über dem Reaktorgelände und den Städten der Umgebung nieder. Davon ist vor Ort erst einmal nichts zu merken.

Inzwischen sind wir am Kontrollpunkt (Ditjatky) angekommen. Schnelle Abfertigung. Noch zehn Minuten durch den Wald und unser Bus biegt in die Sowjetische Straße in Tschernobyl ein. Schon hier verdächtige Ruhe und gähnende Leere. Hier und da verlassene Häuser mit zerstörten Dächern, aus denen Bäume wachsen. Nebenan Hinweisschilder „Kein Feuer im Wald!“ Die Reisenden schauen sich fragend an – gibt es doch weit und breit niemanden, der gewarnt werden könnte.

Es wird still. Erst im Gebäude der Tschernobylinterinform, einer Organisation, deren Büro jeder Atomtourist durchläuft, wird es wieder lauter. Fragen über Fragen: Wie gefährlich ist es draußen? Wie viele Menschen arbeiten in dem Kraftwerk? Lebt hier noch jemand?

Zuerst gibt es die obligatorische Einführung in die Benimmregeln innerhalb der Gefahrenzone: „Nicht essen oder trinken. Keine persönlichen Sachen  auf dem Boden abstellen. Kein Gang ohne Begleitung. Souveniermitnahme untersagt.“

Nach einer halben Stunde geht es in die innere Zone: Zehn Kilometer rund um Block 4. Wir fahren durch die Stadt Prypjat, drei Kilometer vom Kraftwerk entfernt. Die leeren Straßen sind erstaunlich sauber. Spielplätze, Neubauten, stehen da, als ob sie immer noch bewohnt wären. Dazu eine unglaubliche Ruhe. Kein Mensch, kein Auto, nichts. Die Geisterstadt Prypjat, versteckt im Gestrüpp von Laubwäldern, ist zu einem riesigen architektonischen Friedhof geworden.

Seit dem Super-GAU hat sich hier nichts verändert. Das macht alles noch merkwürdiger, denn seit der Katastrophe sind 25 Jahre vergangen. Und damals wohnten hier rund fünfzigtausend Menschen, und es sollten noch mehr werden. Die Bewohner waren überwiegend Mitarbeiter des Kraftwerks mit ihren Familien. Im Frühjahr 1986 wurden sie alle innerhalb von wenigen Tagen evakuiert. Nur die Personalpapiere durften mitgenommen werden.

Wir halten an. Draußen holt unser Begleiter Jurij sein Dosimeter heraus. Lautes Knistern. Dieses Geräusch verbinde ich sofort mit meiner Kindheit. Ich war zum Zeitpunkt der Explosion des Reaktors in der 6. Klasse. Meine Prüfungen fielen aus, die Ferien waren besonders lang. Alle Kinder mußten schnell und für den ganzen Sommer Kiew verlassen. Doch für uns Kinder war dies ein Sommerabenteuer. Heute bekomme ich Gänsehaut, wenn ich an die unzähligen Busse mit den vielen Kindern zurückdenke.

Auf dem Hauptplatz von Prypjat zeigt das Dosimeter von Jurij 29 Millisievert pro Jahr (mSv/a), neben dem Haus der Kultur 80 mSv/a und im Park 700 mSv/a. Die mittlere Strahlungsbelastung in Deutschland liegt bei etwa 4,2 mSv/a. In Prypjat gibt es Orte, wo sie 1.800 mSv/Jahr erreicht. Doch Jurij beruhigt und meint, das schade nichts,  sonst hätte das Ministerium die Reise auch nicht erlaubt. Es klingt nicht gerade überzeugend.

Jurij fährt fort: Wer sich ein paar Minuten auf diesem „schmutzigen“ Fleck aufhält, wird nicht krank. Aber leben kann man hier nicht. Dennoch heißt es, daß um die 200 Menschen – illegal, aber geduldet – in Prypjat leben. Gesehen haben wir sie nicht. Dafür ein belgisches Fernsehteam und eine Gruppe Studenten aus Warschau.

„Ich würde die Reisen nach Tschernobyl nicht als Tourismus bezeichnen“, sagt Dmitrij Bobro, stellvertretender Leiter der staatlichen Agentur für die Verwaltung des Sperrgebietes. „Eher als  Besichtigung mit belehrenden Charakter.“ Er erklärt, daß die vollständige Schließung des Kernkraftwerks sowie der Abbau des Sarkophags 100 Jahre dauern und pro Jahr etwa 100 Millionen Euro kosten würde.

Bei der Mittagspause in der Tschernobyl-Betriebskantine bedient uns Irina. Sie trägt wie alle anderen Mitarbeiter des Objekts auf ihrem Kittel ein schwarzes Kästchen, eine Art Akku, der anzeigt, wie hoch die radioaktive Belastung ist. Sie darf nicht mehr als 0,15 Einheiten pro Monat betragen. Am 30. März zeigt ihr Meßgerät aber bereits 0,18 Einheiten. „Das geht noch“, sagt Irina. „Ansonsten bekommen wir mächtig Ärger, wenn die Meßwerte über der Norm liegen. Denn das heißt, daß wir uns in verbotenen Zonen aufgehalten haben.“

Der Höhepunkt der Reise ist der Besuch des Sarkophags. Aufnahmen dürfen nur von einer Seite gemacht werden. Der Besichtigungsplatz liegt in 300 Metern Entfernung von Reaktorblock 4. Von hier sieht man ziemlich genau den Sarkophag. Die Abdeckung aus Stahl und Beton scheint von zweifelhafter Qualität zu sein. Es sieht so aus, als ob die einzelnen Platten nicht dicht aneinander liegen würden. Gerüchte, daß der Sarkophag strahlt, nehmen kein Ende. Doch eine neue moderne Abdeckung ist schon in Planung, heißt es. Unsere Gruppe drängt sich an den Zaun. Alle wollen ein Foto schießen. „Wurden Sie denn nicht aufgeklärt? Wo wollen Sie denn hin?“ schimpft die Frau in Uniform. „Da ist es doch verstrahlt! Was sind das nur für Menschen!?“ „Das sind Journalisten“, antwortet unser Begleiter Jurij und versucht die entlaufenen Fotografen aufzusammeln. „Nicht auf den Rasen! Er ist noch nicht dekontaminiert!“

Wir fahren zurück. Beim Verlassen der Zone wird jeder durch den Ganzkörpergeigerzähler. Beim „Screening“ wird geprüft, ob man kontaminiert ist. Glück gehabt – „sauber“.

Foto: Mahnmal vor dem Reak­tor­block 4 des Kern­kraft­werks Tscher­no­byl und Ganzkörpergeigerzähler für die „Atomtouristen“:  „Bitte nicht essen, nichts abstellen und vor allem nichts mitnehmen.“ 

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