© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  16/11 15. April 2011

Der Schoß ist fruchtbar noch
Kriminalisierung deutscher Geschichte: Zur Diskussion um das Pamphlet „Das Amt“
Jürgen  Meier

Auch wer die Faszination der Vergangenheitsbewältigung realistisch einschätzt, hätte nicht mit dieser gewaltigen öffentlichen Resonanz gerechnet. Nicht mit fast 100.000 verkauften Exemplaren, über die sich die Herausgeber Norbert Frei, Eckart Conze, Peter Hayes und Moshe Zimmermann freuen dürfen. So oft ging ihr im letzten Herbst unter dem griffigen Titel „Das Amt“ präsentiertes 900-Seiten-Opus über den Ladentisch, das die „Verstrickung“ deutscher Diplomaten in die „Rassen- und Vernichtungspolitik“ der NS-Diktatur zum Thema hat (JF 45/10, 48/10).

Diesen Erfolg hat „Das Amt“ gemein mit Thilo Sarrazins kurz zuvor veröffentlichtem Kassenschlager „Deutschland schafft sich ab“. Zwar mag man einwenden, daß dessen Millionen-Absatz den des zeithistorischen Wälzers doch weit übertroffen habe, da er mit Migration, Multikulti, Desintegration und demographischer Kalamität keinen antiquierten Hickhack aus verstaubten Akten aufkochte, sondern wirkliche Probleme anpackte, die das Leben der meisten Bürger unerträglich belasten.

Trotzdem gehören beide Bücher zusammen. Denn sie markieren, wohl nicht zufällig parallel zum Auftritt des „Wutbürgers“, in der bundesdeutschen Geschichte einen Wendepunkt. Niemals zuvor tat sich die Kluft zwischen veröffentlichter und öffentlicher Meinung so abgrundtief auf wie bei diesen Buchinszenierungen. Bei Sarrazin war das binnen einer Woche offenkundig, als den Meinungsmachern von Bild bis FAZ schwante, das Publikum nicht mehr mit dem üblichen Gesudel über die vermeintlich „ausländerfeindlichen“ bis „rassistischen“ Thesen des ehemaligen SPD-Finanzsenators  einschüchtern zu können. Als er dann seine triumphalen Lesereisen durch die Republik startete, war der Bann medialer Vormundschaft zum Thema „Migration“ gebrochen.

Etwas länger dauerte es, bis Sprachregelungen und vorgestanzte Urteilsraster über „Das Amt“, die im Verdikt gipfelten, in der Berliner Wilhelmstraße residierte seit 1933 „eine verbrecherische Organisation“ (Conze im Spiegel), sukzessive zerbröselten. Ausgerechnet in der FAZ-Redaktion, wo man unter Frank Schirrmachers Ägide dem Historiker-Quartett auch deshalb großzügige Schützenhilfe gewährte, um mit einer wahren Bewältigungsorgie die Blamage in Sachen Sarrazin auszubügeln, kristallisierte sich mit Rainer A. Blasius (Ressortchef „Das politische Buch“) ein Gegenlager der Kritiker von Frei & Co. heraus.

Blasius konnte früh den unseriösen, sensationalistischen Charakter dieser Geschichtsklitterung aufdecken. Den Bluff etwa mit jenem Aktenfund, der den derzeitigen AA-Chef bei der offiziellen Buchvorstellung am heftigsten in Wallung brachte – die Spesenabrechnung über eine Dienstreise des mit der Judenpolitik befaßten Franz Rademacher. Für Blasius kalter Kaffee, ein seit sechzig Jahren bekanntes Dokument.

So ging es dann munter weiter. Auch durch den Dauerbeschuß, dem das Machwerk durch die „Mumien“, die AA-Pensionäre, auf der FAZ-Leserbriefseite über Monate hinweg ausgesetzt war. Erneut entwand sich das störrische Publikum der erdrückende Fürsorge seiner medialen Gouvernanten.

Es fehlte eigentlich nur noch der Todesstoß. Den lieferte der Militärhistoriker Johannes Hürter letzte Woche in den Vierteljahrsheften für Zeitgeschichte (2/2011). In seinem 25seitigen Rezensionsessay läßt er keinen Stein auf dem anderen – Demontage pur. „Vereinfachung und Überzeichnung“, die allgegenwärtige Neigung zu „ebenso suggestiven wie unpräzisen und pauschalisierenden Aussagen“, „falsche Informationen“, „Mutmaßungen“, „Unstimmigkeiten“, Widersprüche zuhauf, die demagogische Reduktion zeithistorischer Komplexität, der fanatische Wille zur „Entdifferenzierung“, der „Verzicht auf eine hermeneutisch und induktiv vorgehende Gesamtanalyse“, „bodenlose Behauptungen“, „steile Thesen“ – in diesem Ensemble schwerster Verstöße gegen wissenschaftliche Standards stecke offenbar die politisch motivierte Absicht, „der interessierten Öffentlichkeit ‘eindeutige’ Antworten“ zu liefern. Dabei werde auch vor der Abstrusität nicht zurückgeschreckt, das AA als „Schaltzentrale“ und „Speerspitze der Rasse- und Vernichtungspolitik“ zu porträrieren.

Somit bestätigt Hürtes penible Sektion Balsius‘ Blitzdiagnose, derzufolge wir hier auf das nur mit der Grubenlampe erkennbare Niveau jener „Braunbücher“ herabsteigen müssen, mit denen die Agitprop-Seppel des SED-Regimes in den 1960ern das Bonner Politpersonal als durchsetzt mit „Kriegs- und Naziverbrechern“ denunzierten. Mit solchen Elaboraten ist 2011 aber keine volkspädagogische Kampagne mehr zu gewinnen. Daß die geschichtspolitischen Oberlehrer damit nur ihr intellektuelles Rest-Renommee verjuxen, dürfte nach Hürters Verriß niemandem mehr verborgen bleiben. Da helfen auch hastig arrangierte Gegenattacken in der Welt (Ausgabe vom 4. April 2011) nichts mehr, wo der Souffleur Alan Posener, einer der zionistischen Landvögte im Hause Springer, den „Amt“-Mitherausgeber Moshe Zimmermann (Universität Jerusalem) übliche Verdächtigungen herunterleiern läßt: Hürter wolle „relativieren“, „die alten Eliten entlasten“, und so weiter.

Dabei entgeht der Zimmermann-Truppe, die ihre Kritiker mit dem hausbackenen „Revisionismus“-Stigma mundtot machen möchte, so in der Süddeutschen Zeitung vom 10. Dezember 2010, daß ihr in Hürter ein treuer Verbündeter erstanden ist. Patrick Bahners deutet diese Konstellation gewohnt verschwurbelt an (FAZ vom 6. April). Fürchtet Hürter doch, daß der im „Amt“-Pamphlet traktierte „erinnerungspolitische Manichäismus von Gut und Böse – die kategorische Einteilung in Täter und Opfer“, sich „in Ritualen zu erschöpfen droht“ und damit „rechtsradikalen Geschichtsklitterern“ zuarbeite.

Hürter fordert jedoch keine prinzipielle Remedur. Im Gegenteil: Eine weniger plumpe, weniger auf SED-Niveau verharrende Version dieser moralischen Kategorisierung und radikalen Enthistorisierung der NS-Zeit soll die im „Amt“ allzu kraß durchscheinende Bewältigungsideologie ablösen. Eine Neuauflage des AA-Reports müsse daher die Engführung auf den „Judenmord“ vermeiden. Aber nur, um die diplomatische Fraktion der deutschen Herrschaftselite um so effektvoller im Kontext der „Gewaltgeschichte“, der „Unrechtspolitik“, der „Vorbereitung eines Angriffskrieges“, der „Beteiligung an Raubzügen und Massenmorden“ zu diskreditieren.

Hürters Angebot zum Neustart der defekten Bewältigungsmaschinerie läuft daher auf die im Gegensatz zur Frei-Crew subtilere, umfassendere Kriminalisierung deutscher Geschichte zwischen 1933 und 1945 hinaus, betrachtet im Licht der „amerikanischen Anti-Mafia-Rechtsprechung“ des „Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozesses“. Dieser Schoß ist halt fruchtbar noch.

Foto: Diplomaten und Unternehmer auf der alliierten Anklagebank in Nürnberg am 20. Dezember 1947: Ex-Staatssekretär Ernst von Weizsäcker, Gustav Adolf von Steengracht von Moyland, Wilhelm Keppler und Ernst Wilhelm Bohle (1. Reihe v.l.n.r.); Otto Dietrich, Gottlob Berger, Walter Schellenberg und Lutz Schwerin von Krosigk (2. Reihe v.l.n.r.)

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