© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Die Kunst der Konfrontation
Mehr als nur ein Brettspiel: Schach ist wie das Leben, sagte Boris Spasski. Bobby Fischer konterte: Schach ist das Leben
Harald Harzheim

Der Theaterautor George Tabori entdeckte im Schachspiel eine ödipale Struktur: Schließlich gehe es darum, „den König matt zu setzen und die Dame zu schnappen“. Schachweltmeister Kasparow, so fuhr Tabori fort, habe seine Mutterbindung überwunden, ihm mache es nichts aus, seine Dame zu opfern. Tatsächlich ist Schach ein Strategiespiel, ein blanker Kampf der Gehirne, ohne Zufallsfaktoren wie Würfelzahl oder Kartensymbol, fordert deshalb emotionale Selbstbeherrschung, duldet kaum ablenkende Belastung.

Von List und Konzentration erzählt auch seine mittelalterliche Entstehungslegende: Das Schachspiel, vom persischen Schah (König) abgeleitet, deshalb als „königliches Spiel“ bezeichnet, wurde angeblich vom weisen Brahmanen Sissa konstruiert, um den Tyrannen Shihram reinzulegen. Sissa schuf ein Brettspiel, um dem Herrscher zu demonstrieren, daß Könige ohne Bauern (Fußsoldaten) und andere Figuren (Stände) hilflos seien. Als Lohn für die anschauliche Sozialkunde verlangte Sis-sa, daß der König ihm aufs erste der 64 Schachfelder ein Weizenkorn legen solle, auf das zweite die doppelte Menge, auf das Dritte wiederum dessen Verdopplung usw. Der König, über solch Bescheidenheit lachend, bemerkte schließlich, daß die Endsumme buchstäblich ins Astronomische stieg: 264−1 oder 18.446.744.073.709.551.615 Weizenkörner! Soweit die Legende.

Historiker vermuten in der Kreation des Schachspiels eine „philosophische Antwort“ auf die zahlreichen Kriege im Indien des 6. Jahrhunderts: „ Das grauenvolle Kriegsgeschehen sollte durch den friedlichen Symbolismus gebannt werden“ (T. Steitz). Tatsächlich verlangt das Schachspiel maximale Konfrontation: Zwei Teilnehmer sind geboten, Ratschläge Dritter offiziell verboten. Schwarz gegen Weiß, Hell gegen Dunkel, Gut gegen Böse, eine Urgnosis steckt dahinter. Kein Grau, keine Farben, keine Zwischentöne haben hier Platz. „Schach ist die gewalttätigste aller Sportarten“, wußte Kasparow.

Daß auch der Geschlechterkrieg sich hier artikulieren kann, beweisen theatrale Aufführungen von „Les liaisons dangereuses“ (Gefährliche Liebschaften), die sämtliche Protagonisten als Schachfiguren auf dem Intrigen-Spielbrett von Valmont und Madame Merteuil plazierten.

Die militärstrategische Komponente des Spiels verdichtet sich in A. Paul Webers Bildnis der Gebrüder Ernst und Friedrich Georg Jünger (1935), die sich am Schachbrett gegenübersitzen. Ernst Jüngers Brieffreund, der Drogenexperte Gustav Schenk, schrieb 1934 den philosophischen Briefroman „Das leidenschaftliche Spiel. Schachbriefe an eine Freundin“. Darin erklärt er Schach zum „größten Spiel der Menschheit (...) das Ihre Sinne schärft, Ihren Gefühlen eine Atempause gewährt, das eisig und frostig ist oder warm und glühend, ganz wie Sie es wünschen und leiten, und das Sie ohne sichtbare Mühe den Kampf lehrt, Kampf als Lebensgefühl, Kampf als Grund aller Bewegung.“

Der 80jährige Schach-Vizeweltmeister Viktor Kortschnoi, genannt „Viktor der Schreckliche“, titulierte seine Autobiographie mit „Meine besten Kämpfe“. In dem Musical „Chess“ (Schach, 1984) stellten die Komponisten Björn Ulvaeus and Benny Andersson (aus der Pop-Gruppe ABBA) den an Kortschnoi angelehnten Russen Anatoly Sergievsky in Konfrontation mit US-Schachstar Freddie Trumper (inpiriert durch Bobby Fischer): eine symbolische Konfrontation der Ost-West-Blöcke im „Kalten Krieg“.

Selbst der abendländische Dualismus von Körper und Geist fand in dem Brettspiel symbolische Zuspitzung. Julian Wasser fotografierte 1963 den Dadaisten Marcel Duchamp mit der nackten 20jährigen Schriftstellerin Eve Babitz am Schachtisch: Geist, alt und dürr, gegen das junge, üppige Fleisch. Natürlich übernahm Babitz die schwarzen Figuren, während der Altmeister mit Weiß den lichten Geist vertrat. Angeblich gewann Duchamp die Partie nach drei Zügen – das Abendland konnte aufatmen.

Geht man noch weiter zurück, illustriert das Schachspiel den Kampf zwischen Leben und Tod. In Ingmar Bergmans Film „Det sjunde inseglet“ (Das siebente Siegel, 1957) spielt ein mittelalterlicher Ritter (Max von Sydow) mit dem Tod eine Schachpartie. Verliert er die, ist auch sein Leben verloren.

Ähnlich ringt in Edgar Ulmers „The Black Cat“ (Die schwarze Katze, 1934) der Familienvater Vitus Werdegast (Bela Lugosi) mittels Schachspiel um das Leben seiner Tochter. Der Gegner, Satanist Hjalmar Poelzig (Boris Karloff), macht ihre Opferung vom Ausgang des Spiels abhängig.

Der Held in Stefan Zweigs „Schachnovelle“ (1938–1941) wiederum wehrt sich mit einer nachgestellten Partie gegen Folter und geistige Zerrüttung. Kein anderes Spiel läßt sich derart existentiell aufladen. Man denke nur an ein Golfspiel auf Leben und Tod ...

Aber Schach öffnet auch Assoziationen zur Kriminalistik: Erinnert sei an die Partie zwischen Sherlock Holmes und Watson in „Der Hund von Baskerville“ (1959) oder an den Thriller „Knight Moves“ (Ein mörderisches Spiel, 1992). Auch die Alltagssprache übernimmt Bilder aus diesem Spiel, man redet vom „Bauernopfer“, will jemanden in „Schach halten“ und keine Schachfigur für andere sein, jedesmal im Kontext von Gewalt und Okkupation.

Gerade die mathematisch-strategische Ausrichtung des Schachspiels hat den Computer zum idealen Gegner qualifiziert: Ein symbolischer Wettlauf mit ungewissem Ausgang. So verkörpert Schach heutzutage den Kampf um das menschliche Selbstverständnis, seine Abgrenzung gegenüber der Maschine, den Herrschaftskampf gegen die Technik.

Auf der Strecke geblieben ist hingegen die ästhetisch-aristokratische Dimension. Leibniz schrieb einst: „Die erstaunliche Logik und die mathematische Exaktheit stellen das Schachspiel auf eine Stufe mit jeder exakten Wissenschaft, während Schönheit und Bildhaftigkeit seiner Ausdrucksform im Verein mit künstlerischer Phantasie es in eine Reihe mit allen anderen Künsten rücken läßt.“ Jene ästhetische Eleganz aber, das Image vom „Adel“ oder der „Aristokratie“ des Geistes verschwand nach dem Ersten Weltkrieg, mit dem Untergang des Adels als politischer Klasse. Der Schriftsteller Alexander Roda Roda pries als einer der letzten jene „hocharistokratische Atmosphäre des Schachs“.

Inzwischen bemüht man sich erneut, das allzu konfrontativ-„versportete“ Image des Brettspiels mit ästhetischen Mitteln zu überwinden. Das zumindest ist Ziel der aktuellen Ausstellung „Schach!!“, im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr anläßlich der Schach-Bundesliga 2011 eröffnet. Klassiker wie W. Kandinsky oder M. Duchamp stehen neben Zeitgenossen der Berliner Kunstszene oder dem Münchner Ugo Dossi. Der zeichnete den Spielverlauf legendärer Partien nach, will die Denkprozesse als Choreographien sichtbar machen, erklärt die Spieler zu Künstlern: „Ich visualisiere die Schlagwechsel während einer großen Partie und mache damit etwas Meisterliches sichtbar – nämlich das Kunstwerk, das zwischen den Beteiligten entsteht, den beiden Gegnern“ (Dossi). Nicht miteinander, sondern gegeneinander Kunst schaffen. Das Problem ist nur: unter diese Definition ließe sich bestimmt auch mancher Realkrieg subsumieren ...

Die Ausstellung „Schach!!“ ist bis zum 1. Mai im Kunstmuseum Mülheim an der Ruhr, Synagogenplatz 1, täglich außer montags zu sehen. Telefon: 02 08 / 4 55 41 71  www.kunstmuseum-mh.de

Foto: Schachfiguren: Symbolische Zuspitzung des abendländischen Dualismus von Körper und Geist, aber auch Kampf auf Leben und Tod

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