© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Pankraz,
Jean Ziegler und der Verrückte im Zelt

Die Szene hatte etwas total Verrücktes. Amerikanische Kampfjets in der libyschen Wüste griffen eine Truppe von rebellischen Beduinenkriegern an, die auf den Ladeflächen ihrer Autos standen und mit Kalaschnikows wie wild in die Luft ballerten. Nach wenigen Augenblicken waren viele der Autos zerstört und viele der Beduinen tot. Und dabei hatten diese doch nur Freudenschüsse abgegeben über das Erscheinen der verbündeten Flugzeuge! Die US-Piloten aber hatten die Schüsse für Abwehrfeuer feindlicher Gaddafi-Truppen gehalten und erbarmungslos zurückgefeuert.

Bei Karl May hätten sie sich vorher darüber informieren können, daß Beduinenstämme ihre Freunde traditionell mit Gewehrsalven in die Luft zu empfangen pflegten. Nur ritten sie zu Mays Zeiten noch nicht auf Autos, sondern auf Kamelen, und sie hatten noch keine Kalaschnikows, sondern vorsintflutliche Steinschloßflinten. Das Freudengeballer nannten sie „Feerie“ und hielten es für die höchste Auszeichnung, die man einem Gast bereiten konnte. Genauso dachten jetzt offenbar die zu Tode gebrachten Anti-Gaddafi-Rebellen.

Doch der Vorfall mit der tödlichen Feerie ist keineswegs die einzige Verrücktheit, die die Vorgänge in Libyen begleiten. Die ganze Aktion steckt voller monumentaler Verrücktheiten, und sie rangiert ja auch in den etablierten Medien des Westens als „Krieg gegen den Verrückten von Tripolis, den man auf jeden Fall daran hindern muß, sein eigenes Volk auszurotten“. Indes, die Verrückheit waltet keineswegs nur auf seiten Gaddafis, sondern nicht minder (wahrscheinlich sogar mehr noch) auf seiten seiner Gegner.

Noch nie hat es eine Militäraktion „des Westens“ gegeben, die derart von Verrücktheit geprägt war wie die gegen den verrückten Gaddafi. Die Nato, die für solche Unternehmungen zuständig ist, ja, eigens für sie geschaffen wurde, hatte von dem Ganzen zunächst überhaupt keine Ahnung. Vom Zaune gebrochen hatte den Angriff der zappellige französische Staatspräsident Sarkozy, und zwar ohne jegliche vorherige Konsultation. Er spielte sich frischweg als eine Art zweiter Napoleon auf, um von seinen innenpolitischen Schwierigkeiten abzulenken

Als sich die überraschte Nato endlich meldete und ihren Führungsanspruch anmahnte, gab es eine groteske öffentliche Auseinandersetzung. Sarkozy wollte seinen Feldherrenstatus unbedingt behalten, und die Engländer sprangen ihm in alter Kolonialmanier bei. Die eigentliche Nato-Führungsmacht hingegen, die USA mit ihrem Präsidenten Obama, führten und führen seitdem eine Politik vor, die man nicht anders als Echternacher Springprozession bezeichnen kann: Einen Schritt vorwärts, zwei Schritte zurück, zwei Schritte vorwärts, einen Schritt zurück und so weiter und so fort. Getanzte Verrücktheit!

Der „Verrückte von Tripolis“ weist inzwischen eifrig darauf hin, daß Libyen unter seiner Herrschaft zum freiesten und wohlhabendsten Land des ganzen Maghreb geworden sei. Es habe weniger politische Gefangene als etwa Deutschland und überhaupt eine Häftlingsrate, die noch unter der der Tschechei liege. Seine Wohlstandsrate reiche an die von Norwegen heran, und alle westlichen Staatsgäste, die er im Laufe der Jahre empfangen habe, hätten ihm das bestätigt. Und nicht nur das. Auch zahlreiche prononciert linke Institutionen und Persönlichkeiten hätten Libyen immer wieder gelobt und als Vorbild für andere arabische Staaten empfohlen.

In der Tat hat sich etwa die weltberühmte Londoner „New School of Economis (NSE)“, ein Inbegriff kritischen Denkens und fortschrittlicher Soziologie, in den letzten Jahren mit Hilfe von Geldern aus Libyen von Grund auf saniert und stabilisiert und hat dafür auch heftigste Dankbarkeit bezeugt. Fast noch spektakulärer der Fall des langjährigen Schweizer Nationalrats Jean Ziegler, einer Ikone linken Gutmenschentums geradezu, von 2000 bis 2008 UN-Sonderberichterstatter „für das Recht auf Nahrung“ und prominentes Mitglied der UN-Menschenrechtskommission.

Ziegler hatte sich seit Jahren regelrecht zum Zeugen für Gaddafi und seine Kompetenz in Menschenrechtsfragen gemacht, er verwaltete den hochdotierten „Gaddafipreis für Menschenrechte“, deren erster Träger er selber war, und mußte sich deshalb von Le Monde schon früh als „Pantoffellecker des Verrückten von Tripolis“ beschimpfen lassen. Heute nun bestreitet er, den Preis angenommen zu haben, und räumt achselzuckend ein, daß auch er, Ziegler, Gaddafi manchmal für ziemlich verrückt gehalten habe, wenn er ihn in seinem berühmten Zelt residieren und ihn sein vielleicht nicht ganz so berühmtes „Grünes Büchlein“ schwenken sah.

Es stimmt ja auch: Mao Tse-tungs „Rotes Büchlein“ war zweifellos berühmter als das Grüne Büchlein von Gaddafi, und es hat unendlich viel mehr Menschen das Leben gekostet. Millionen mußten es bei jeder Gelegenheit hektisch hin und her schwenken, und wer nicht genug schwenkte, der war des Todes. Im Vergleich dazu war und ist Gaddafi politisch und in bezug auf Verrücktheit ein recht kleines Licht. Man hätte ihn und die mit ihm verfeindeten Beduinen-Clans  ohne Gesichtsverlust aus der Weltpolitik heraushalten können.

Der eigentliche Gesichtsverlust, speziell für die Gaddafi einst umschmeichelnden und ihn nun mit Krieg überziehenden westlichen Kräfte, entstand erst dadurch, daß sie ihn so lautstark als Weltverrücktheit Nummer eins denunzierten – und dabei so viele eigene Verrücktheiten preisgaben. So legt sich nämlich die Frage nahe: Ist Politik, so wie sie nicht nur von Diktatoren, sondern generell auch von demokratischen Möchtegern-Napoleons oder Groß-Zauderern betrieben wird, vielleicht mit Verrücktheit identisch? Kann es sogenannte große Politik ohne Verrücktheit überhaupt geben? Sehnt sich das die Politik beobachtende me-diale Massenpublikum sogar nach Verrücktheit?

Nun, fest steht auf jeden Fall: „Politik ist nicht Wissenschaft, sondern Kunst. Und wer die Kunst nicht beherrscht, macht verrückte Politik“ (Otto von Bismarck).

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