© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Wider alle Beteuerungen: Die Pflegeversicherung wird teurer
Verschobene Finanzfragen
Jens Jessen

Die Bundesregierung hat Berichten über höhere Beiträge für die Pflegeversicherung widersprochen. „Finanzfragen stehen nicht zur Entscheidung an“, erklärte Vizeregierungssprecher Christoph Steegmans – doch ein echtes Dementi war das nicht, denn früher oder später wird es dazu kommen. Ansätze der Hilfe und Pflege im Alter waren traditionell durch ein geringes Maß an staatlicher Absicherung geprägt. Kommunales, bürgerschaftliches und familiäres Engagement hatte demgegenüber ein großes Gewicht. Hilfe und Pflege im Alter ist lange Zeit eine Domäne kirchlicher Organisationen und der Wohlfahrtsverbände gewesen.

In vielen Gemeinden hatte sich eine lokale Solidaritäts- und Selbsthilfekultur entwickelt, die auf dem Engagement von selbständigen lokalen Trägervereinen, Mitgliedsbeiträgen und ehrenamtlicher Mitarbeit beruhte. Die Zahl der zur Versorgung pflegebedürftiger Personen zur Verfügung stehenden Pflegekräfte und -einrichtungen war trotz eines kontinuierlichen Anstiegs seit den sechziger Jahren zu gering.

Ein wesentlicher Krisenfaktor war der Nachwuchsmangel der geistlichen Orden, die fast ausschließlich das Personal der Gemeindepflegestationen stellten. Daher wuchs das Bewußtsein, daß das Pflegerisiko einer finanziellen Absicherung bedarf. Wie dies auszugestalten sei, war allerdings heftig umstritten. 1995 wurde die Pflegeversicherung dann als „Fünfte Säule der Sozialversicherung“ eingeführt. Das war die Antwort auf das soziale Lebensrisiko, welches mit der gesellschaftlichen Alterung erheblich an Bedeutung gewonnen hat. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung rechnet für das Jahr 2050 mit 4,7 Millionen Pflegebedürftigen. Von erheblicher Bedeutung ist das Ausmaß der Krankheitshäufigkeit (Morbidität) in einer Gesellschaft und ihre soziale Verteilung. Pflegebedürftigkeit tritt weit überproportional in den unteren Sozialschichten auf. Durch eine verbesserte Prävention, die sich vor allem auf die Verminderung sozialer Ungleichheit bei der Krankheitsverteilung richtet, ließe sich der Pflegebedarf senken.

Soziale Netze verlieren unter dem Einfluß gesellschaftlicher Desintegrationsprozesse für das Individuum an Bedeutung. Da aber eine Umkehr des Trends zur Individualisierung von Lebensformen nicht in Sicht ist, muß davon ausgegangen werden, daß die Nachfrage nach professioneller Pflege in Zukunft weiter steigen wird. Dann entwickelt sich die professionelle Pflege zu einem wichtigen Wirtschaftszweig. Die Zahl der Pflegekräfte wird erhöht, damit die Anforderungen der alternden Gesellschaft erfüllt werden können.

Mehr Pflegekräfte können aber nur gewonnen werden, wenn sie ihrer gesellschaftlichen Aufgabe entsprechend bezahlt werden. Das schlägt sich ohne Frage in den Beitragssätzen der Pflegeversicherung doppelt nieder: durch die größere Zahl von Pflegekräften und deren bessere Bezahlung.

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