© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  15/11 08. April 2011

Pulverfaß kurz vor der Explosion
Jemen: Chaos und drohender Staatszerfall am Golf von Aden
Günther Deschner

Nach Tunesien, Ägypten und Libyen rückt nun der Jemen in den Blickpunkt weltweiten Interesses. Seit mehr als acht Wochen gehen in der Hauptstadt Sanaa und in den Provinzen immer wieder Zehntausende Gegner des seit 32 Jahren regierenden Präsidenten Ali Abdullah Salih auf die Straße und fordern seinen Rücktritt. Das bitterarme Land im Süden der arabischen Halbinsel steht am Rande von Chaos und Zerfall. Das ist nichts Neues für den „kranken Mann am Golf von Aden“: Seit Jahren wird der Jemen den „scheiternden Staaten“ zugerechnet.

In der sich zuspitzenden Krise ist Präsident Salih aber zweifellos auch ein Opfer des gegenwärtigen Krisendominos im Nahen Osten und der arabischen Welt. Seine Situation ist aber anders als es die von Mubarak in Ägypten oder von Ben Ali in Tunesien war. In beiden Ländern existierte als machtrelevante Institution die Armee – unabhängig genug, um abwartend neben ihren unpopulären politischen Führern zu stehen und sie im richtigen Moment fallenzulassen.

Anders Salih: Im Jemen, der im Kern eine Stammesgesellschaft ist, wurde die Kommandoebene von Armee und Sicherheitsorganen fast ausschließlich mit Angehörigen der Großfamilie Salih oder des Sanhan-Stammes gespickt, dem sie entstammt: Ob Republikanische Garde oder „Kommando Spezielle Operationen“, ob Präsidentengarde, „Nationales Sicherheitsbüro“ oder Luftwaffenkommando – die kommandierenden Chefs sind Söhne und Neffen, Brüder, Halbbrüder oder Stammesbrüder Salihs.

Daß es nun mit Generalmajor Ali Salih Muhsin al-Ahmar, dem mächtigen Generalstabschef, ausgerechnet ein Halbbruder des Präsidenten ist, der sich vor ein paar Tagen an die Spitze der Protestbewegung gestellt hat, wirkt wie eine Parodie auf das Sicherheitskonzept des angeschlagenen Präsidenten. 

Beobachter gehen davon aus, daß damit auch die Wahrscheinlichkeit eines Militärputsches gewachsen ist, der auch von Jemens Nachbarstaaten akzeptiert, wenn nicht sogar befördert werden könnte. Vor allem Saudi-Arabien verfolgt mit Argusaugen, was im Jemen geschieht. Besorgt über die instabile Lage äußerte sich der Golfkooperationsrat, dem neben Saudi-Arabien auch die Vereinigten Arabischen Emirate, Bahrain, Oman, Katar und Kuwait angehören. Die Außenminister der sechs erklärten in Riad, man sei beunruhigt über die Verschlechterung der Sicherheitslage im Jemen. Sie riefen die Konfliktparteien auf, „schnell den Dialog wiederaufzunehmen, um sich auf erforderliche Reformen zu einigen“. Erst kürzlich hatten die Golfstaaten zur Unterstützung des Königshauses von Bahrain gegen schiitische Demonstranten sogar die militärische Karte gezogen und zwei Infanteriebataillone entsandt.

Unter den Demonstranten auf dem Tahrir-Platz in Sanaa hoffen viele, ihr Land werde nach einem Sturz des Langzeitpräsidenten Salih demokratischere Strukturen bekommen. Doch in dem archaischen, von Stammesrivalitäten und Clan-Fehden geprägten Land ist das wenig wahrscheinlich. Der Präsident ist seit Jahren immer weniger in der Lage, die Probleme des Landes zu lösen, und seine Zentralregierung ist nicht nur deshalb schwach, weil es ihr an Geld, Waffen und Sicherheitskräften fehlt. Es gelingt ihr vielmehr aufgrund des Widerstands zahlreicher innenpolitischer Gegner und militanter Gruppierungen nicht, die Krisenherde im Land in den Griff zu bekommen. Der islamistische Terrorismus ist nach dem Bürgerkrieg im Norden und dem Separatismus im Süden nur das drittwichtigste sicherheitspolitische Problem des Jemen.

Salihs autoritäres Regime ist zwar mit einer demokratischen Fassade verkleidet, basiert aber auf weitverzweigten Patronagenetzwerken, in welche auch die Stämme eingebunden sind. Für die Regierung ist es aber immer schwieriger geworden, das System aufrechtzuerhalten. Wichtigster Grund sind die zunehmenden finanziellen Probleme des ärmsten arabischen Staates. Der Jemen bestreitet drei Viertel seines Haushalts aus Öleinnahmen. Die Ölproduktion geht jedoch seit 2001 stetig zurück, und in ein paar Jahren wird der Jemen gar kein Öl mehr fördern.

Gleichzeitig wächst der Widerstand gegen die Zentralregierung an drei Fronten: Im Norden zeichnet sich kein Ende des auf Stammesrivalitäten beruhenden Bürgerkriegs ab. Vor allem die schiitischen Houthi-Rebellen erweitern ihren Einfluß. Im Süden gewinnen die Separatisten, die wieder einen unabhängigen Staat „Südjemen“ wollen, fortwährend an Zulauf, und islamistische Terrorgruppen, die man unter dem Sammelnamen „Al-Qaida in the Arabian Peninsula“ (AQAP) zusammengefaßt hat, verüben immer häufiger immer aufsehenerregendere Anschläge, zuletzt vor zwei Wochen beutereiche Überfälle auf Waffen- und Munitionsfabriken.

Aufständische und Terroristen profitieren davon, daß die Regierung die Kontrolle über einige Landesteile schrittweise verliert. Wegen der Finanzmisere ist Präsident Salih auch immer weniger imstande, die ohnehin eigenwilligen Stämme der Provinzen mit Geld zu kooptieren.

Es dürfte dieses Konglomerat von Vetternwirtschaft, wirtschaftlichem Niedergang, bürgerkriegsähnlichen Zuständen in den Provinzen und steigender Terrorpräsenz sein, das den Jemen zum regionalen Pulverfaß macht. Das Auswechseln des Präsidenten wird das nicht so einfach ändern.

Foto: Studentin bei einer Antiregierungs-Demonstration in Sanaa: Siegessicher im Kampf gegen den Präsidenten Ali Abdullah Salih

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