© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de  14/11 01. April 2011

Die Gesellschaft der Hundertjährigen
Bevölkerungspolitische Strategien gegen statistisches Katastrophendenken / Nur qualifi zierte Zuwanderung
Torsten Angerer

Thilo Sarrazins Kassandraruf „Deutschland schafft sich ab“ hat den demographischen Wandel wie nie zuvor ins öffentliche Bewußtsein gehoben. Seit dem Erscheinen seiner in Millionenauflage verbreiteten bevölkerungspolitischen Lageanalyse füllen sich Feuilletons und Fachzeitschriften mit mehr oder weniger wissenschaftlich gut fundierten Kontrapositionen.

Ein derart ins Zentrum des gesellschaftlichen Interesses gerücktes Thema ließ natürlich auch die unentwegt um „Volksaufklärung“ bemühte Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) nicht kalt. Ihr Hausorgan Aus Politik und Zeitgeschichte (10-11/11) mobilisiert daher ein Maximum an statistisch gestütztem Expertenwissen, um Sarrazins wesentlich als „apokalyptisch“ verstandenen Thesen Paroli zu bieten.

Dabei werden die beiden wichtigsten Problemkomplexe säuberlich geschieden: die sinkende Geburtenrate der Deutschen einerseits, der ungesteuerte Zustrom geburtenstarker Migranten in unsere Sozialsysteme andererseits. Einigkeit unter den Demographen besteht darüber, die negative Geburtenbilanz endlich als die größte Herausforderung anzuerkennen, der sich diese Gesellschaft in Zukunft stellen muß. Damit ist zugleich das Gerede von den nur „vermeintlichen“ Gefahren vom Tisch, das im links-ignoranten Milieu noch immer dominiert, wo man Bevölkerungspolitik reflexartig als „nazistisch“ denunziert.

Auf den Beitrag des Berliner Erwachsenenbildners Thomas Bryant, der genau diese verkratzte Platte als Warnung vor der „Nähe von Demographie und Demagogie“ hier abspielen darf, hätte die BpB daher getrost verzichten können. Zumal der Bonner Politologe Tilman Mayer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Demographie, den immensen Zeitverlust beklagt, der durch solche ideologisch induzierten Versuche, Geburtenrückgang und Migrationsprozesse einfach wegzudiskutieren, entstanden sei. Vierzig Jahre früher hätte „Demographiepolitik“ viel größere Chancen gehabt. Der ungebremste, kontinuierliche Geburtenrückgang seit 1970 habe statt dessen eine derartige „Einbeulung“ in der Bevölkerungsstruktur verursacht, von der niemand erwarten dürfe, sie lasse sich wieder korrigieren. Nur ein besserer Ausgleich im Altersaufbau sei nach einer scharfen Kehrtwende vielleicht erreichbar.

Praktisch in zwölfter Stunde habe die Bundesregierung erst Ende 2009 eine Strategie zu entwickeln versucht, um die dramatische demographische Situation zu erfassen und Ansätze zur Gegensteuerung zu analysieren. Nach Jahrzehnten der Passivität dürfe diese neue Aufgeschlossenheit aber nun nicht in Einzelmaßnahmen verpuffen, zu denen Mayer auch die Fixierung „verkraftbarer Migrationsvolumina“ rechnet. Die Initiative müsse vielmehr langfristig zu wirklicher „Gestaltung“ übergehen.

Dafür sei, als „strategisches Zentrum“, ein neues Bundesministerium für Demographie nicht nur um der politischen Symbolik willen zu schaffen. „Am besten im europäischen Kontext“ anzupacken wäre dann die Umsetzung einer Konzeption, die auf mindestens drei Säulen ruht: Erhöhung der Lebensarbeitszeit, gezielte Mütterförderung und Reduktion der Ausländerflut auf „besonders Qualifizierte“.

Wie sich Gefahren einer alternden und schrumpfenden Bevölkerung in Chancen verwandeln lassen und für Deutschland damit weiter ein Platz in den oberen Rängen der „globalen politischen Hackordnung“ zu sichern sei, skizzieren der Zeit-Autor Björn Schwentker und der am Rostocker Max-Planck-Institut für Demographie tätige James Vaupel, die eine „Neue Kultur des Wandels“ einfordern, sowie der vorsichtiger argumentierende Axel Börsch-Supan, Direktor des Mannheimer Forschungsinstituts Ökonomie und Demographischer Wandel. Das Planspiel von Schwentker und Vaupel kalkuliert dabei mit einem von US-Medizinern und Anthropologen seit langem registrierten Phänomen: der Ausweitung der „biologischen Obergrenze“. Alle zehn Jahre, so die Protagonisten der US-Biodemography, steige die Lebenserwartung in den Industrieländern um 1,5 bis 3,5 Jahre. Fortschritte der Medizin hätten zugleich verhindert, daß gewonnene Lebens- in Leidenszeit umschlage.

Diese „Gesellschaft der Hundertjährigen“, die von den Kindern gebildet werde, „die heute auf den Geburtsstationen liegen“, erwarte angesichts solcher gesundheitlichen Zugewinne im Alter keineswegs der vom „statistischen Katastrophendenken“ prognostizierte „Krieg der Generationen“, der entstünde, wenn immer weniger Junge immer mehr Alte versorgen müssen. Denn dank unabsehbar auszuweitender „biologischer Obergrenzen“ lasse sich das Rentenalter an die Lebenserwartung koppeln.

In Dänemark werde für die Zeit nach 2030 bereits über die „Rente mit 74“ diskutiert. Mit solchen Dynamisierungen ginge eine Neu- und Umverteilung der Arbeit einher, die bald primär in Teilzeitarbeit bestehen werde. Die traditionelle Lebensaufteilung „Lernen-Arbeit-Freizeit (Rente)“ zerbreche damit. Wenn sich Arbeitszeit aber gleichmäßiger über das Leben verteile, treibe das die Geburtenraten nach oben, da junge Menschen, die weniger arbeiten müßten, mehr Zeit für ihre Kinder hätten.

Obwohl Börsch-Supan Veränderungen der „Biologie des Menschen“ reservierter beurteilt, sieht auch er zu „fundamentalem Pessimismus“ keinen Anlaß. Sofern man nur den „zentralen Schalthebel“ umlege und den Anteil der durch Weiterbildung fit gehaltenen „jungen Alten“ an der Erwerbsquote steigere. „Mit einer geschickten Kombination von Arbeitsmarkt- und Sozialversicherungsreform“ könne unser Lebensstandard konstant gehalten, eventuell sogar erhöht werden. Und Sorgen um unsere „Abschaffung“ müßten wir uns dann auch nicht mehr machen.

Foto: Altersheim Deutschland: Der kontinuierliche Geburtenrückgang seit 1970 hat eine „Einbeulung“ in der Bevölkerungsstruktur verursacht

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